Bauernproteste: Niederländische Polizei bedauert Schuss auf 16-Jährigen

Archivbild (Bauernproteste mit Farmers Defence Force am 22. Juli 2020): Ministerie van Defensie/CC0 1.0

Hetze in sozialen Netzen gegen Polizeibeamte. Schütze hat sich krank gemeldet. Polizei will Schaden am Traktor ersetzen.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Was das bedeutet, sieht man derzeit bei den eskalierenden Bauernprotesten in den Niederlanden.

Die Landwirte sollen zum Schutz der Umwelt ihren Stickstoffausstoß reduzieren. Das bedeutet vor allem eine Verringerung des Viehbestands. Viele Bauern wollen das aber nicht hinnehmen und blockieren seit Wochen immer wieder Straßen, Flughäfen und Verteilzentren für Supermärkte im ganzen Land. Am Montag konnte ich selbst eine auch bei deutschen Urlaubern beliebte friesische Insel vorübergehend nicht verlassen, als Fischer die Häfen blockierten.

Den bisherigen Höhepunkt erreichten die Proteste, als am vergangenen Dienstag ein Polizeibeamter auf einen Traktor schoss (Viehzucht oder Umweltschutz? Niederländische Bauernproteste eskalieren). Inzwischen ist klar, dass mehrere solcher Fahrzeuge in einer Polizeisperre auf der A32 bei Heerenveen standen. Traktoren dürfen aber nicht auf die Autobahn. Daher sollten die Fahrer ein Bußgeld bekommen.

Als ein Fahrzeug aus der Absperrung ausbrach, rannten Polizisten mit gezogener Waffe herbei. Ein Beamter schoss zweimal auf den Traktor. Dieser wurde vom 16-Jährigen Bauernsohn Jouke gesteuert. Er und zwei andere Männer wurden daraufhin von der Polizei festgenommen. Der Vorwurf lautete: Verdacht auf versuchten Totschlag.

Nach einer Nacht und einem Tag in Polizeigewahrsam wurde Jouke freigelassen. Schließlich stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Wie bei Polizeischüssen üblich, untersucht die Landespolizei nun die Reaktion des Polizeibeamten.

Menschliche Seite

Im Nachspiel der Vorfälle zeigt sich die menschliche Seite: Von den 4.000 Polizistinnen und Polizisten im Norden der Niederlande – den Provinzen Drenthe, Groningen und Friesland – stammen nämlich viele selbst aus Bauernfamilien. In ihrem Familien- und Bekanntenkreis müssen sie sich tagtäglich für die Polizeiarbeit verantworten.

Ein Interview mit dem Polizeichef Gery Veldhuis erschien nun in der Tageszeitung NRC. Darin erklärt er, es wäre "ziemlich dramatisch" gewesen, wenn die Kugel den 16-Jährigen getroffen hätte. Das Geschoss sei nur um wenige Zentimeter an dem Bauernjungen vorbeigegangen. Aufgrund der laufenden Ermittlungen der Landespolizei könne er sich aber nicht zu Faktenfragen äußern.

Den Vorfall bezeichnete er trotzdem als "Fehleinschätzung". Seine Mitarbeiter seien davon ausgegangen, dass der Fahrer den Traktor als Waffe verwenden wollte. Als der Polizeibeamte schoss, habe er, nach eigenen Angaben, damit seine Kollegen vor dem Fahrzeug schützen wollen. Dass ein 16-Jähriger am Steuer saß, habe er nicht gewusst.

Der Polizeichef schildert, wie hinterher in sozialen Medien Hetze auf seine Mitarbeiter gemacht wurde. Einen Polizeibeamten aus Heerenveen habe man als den Schützen ausgemacht. Das sei aber falsch. Trotzdem werde der Mann nun bedroht. Tatsächlich berichteten Medien zuvor, ein Polizist aus dem Ort sei untergetaucht.

Polizeichef Veldhuis berichtet, am Donnerstag mit dem Mitarbeiter gesprochen zu haben, der auf den Traktor geschossen hat. Es gehe ihm schlecht und er sehe sich zurzeit nicht in der Lage, seinen Dienst auszuführen.

Die Eltern des Bauernjungen erwägen eine Anzeige gegen den Polizeibeamten. Die Polizei gibt ihnen aber den Traktor zurück und will den Schaden an der Windschutzscheibe ersetzen. Der 16-jährige Jouke wolle mit dem Polizisten sprechen – und der Polizeibeamte wolle das auch.

Zur Wiederherstellung der Ordnung setzte die Polizei in Friesland vergangene Woche einmal Tränengas ein. Bei anhaltenden Blockaden werde man nun zunehmend die Traktoren und anderen Landbaufahrzeuge der Protestierenden beschlagnahmen.

Preis für den Umweltschutz

Aber auch die Regierung in Den Haag ist gefragt. Nach Veröffentlichung ihrer Stickstoffpläne im Juni eskalierte die Situation vehement. Um die Emissionen zu reduzieren, wozu man auch durch europäische Gesetze verpflichtet ist, wurden jetzt schon Bauprojekte angehalten und müssen Kraftfahrzeuge langsamer fahren.

Derweil kursieren im Netz Falschmeldungen, die Regierungspläne würden die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung aufs Spiel setzen. Einerseits exportieren die Landwirte den größten Teil ihrer Produkte aber ins EU-Ausland. Und andererseits erklären Wissenschaftler, dass im Gegenteil ein mangelhafter Umweltschutz die Nahrungsmittelversorgung gefährde.

Zu viel Stickstoff durch Gülle und andere Düngemittel bedroht die Pflanzen- und Artenvielfalt in Wasser, auf dem Land und in der Luft. Insbesondere in der Nähe von Naturschutzgebieten will die niederländische Regierung darum jetzt schärfere Grenzwerte durchsetzen. Das trifft vor allem Landwirte, die dort Felder bestellen und Nutztiere halten.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.