"Beauty and the East" - Nettime-Treffen in Ljubliana

Von Onkel Soros' aufmüpfigen Kindern

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Eine winzige, seltsame Szene ist mir von dem Nettime-Treffen in Ljubliana besonders im Gedächtnis haften geblieben. Ich möchte bloß wissen, warum.

Es ist nach Mitternacht, am letzten Tag des offiziellen Treffens, und die meisten Nettimer sitzten in der halbdunklen Kellerdisco K4 herum. Oder genauer gesagt: sie lümmeln etwas träge in den metallisch glänzenden Möbeln des ehemaligen Jugendclubs. Nach der intensiven Dauerdiskussion der letzten beiden Tage sind die meisten erschöpft und inzwischen wohl auch ein bißchen betrunken. Ein paar Stunden früher hat ein ungarischer Diskjockey angefangen, Techno aufzulegen und sich inzwischen zu ohrenbetäubender Lautstärke gesteigert. Gespräche sind nur noch im Brüllton möglich, und dafür sind die meisten mittlerweile zu müde.

Nettimers im K4

Wir sitzen im Kreis um unsere Tischchen, und niemand scheint zu bedauern, daß es im Augenblick nichts mehr zu sagen gibt. Stattdessen sehen alle mit leerem Blick auf die Biergläser und durch sie hindurch, als plötzlich Marleen Stikker von Digitale Staad Amsterdam ihre Hand über die Tischplatte nach Diana McCarthy, einer der Organisatoren des Treffens, ausstreckt. Die zuckt hoch, nimmt ihre Zigarettenschachtel und will sie Stikker reichen. Aber die wollte gar keine Zigarette, sondern McCarthy bloß mal gerade den Oberarm streicheln.

Vielleicht ist es der rührende Gegensatz zwischen dieser direkter Geste (Reach out and touch someone!) und der irrtümlichen Reaktion mit einer Ware (mit einer Zigarettenschachtel!), der etwas über die seltsame Natur dieses Treffens sagt. Denn der Grund, warum wir hier im K4 in Ljubliana sitzten, ist ebenfalls maschinell von einer Ware hervorgebracht worden: Wir sind alle nach Ljubliana gekommen, weil ein kleines Software-Programm namens "Listserv" auf einem Computer in Amsterdam zuverlässig seinen Dienst tut. Und weil es durch diese Software, jede Menge Computer und dem Internet dazwischen gelungen ist, aus dieser technischen Infrastruktur einen sozialen Raum zu schaffen.

Aber der Reihe nach: Wo sind wir hier eigentlich? Und vor allem: Wer sind "wir" überhaupt? "Wir" befinden uns auf einem Real-Life-Treffen der Mailingliste "nettime", das den schönen Namen "Beauty and the East" trägt. Es ist das vierte Treffen der Mitglieder dieser Mailingsliste und wird diesmal von dem slowenischen Medienzentrum Ljudmilia in Ljubljana ausgerichtet. Durch solche Treffen soll der Diskurs vertieft und intensiviert werden, der auch das Gesicht von "nettime" prägt: Netztheorie, Netzkunst, Ost-West-Problematik und eine aus verschiedenen Motiven gespeiste, aber umso lautstärker vertretene "europäische" Oppositionshaltung gegen die "kalifornische Ideologie", die von der amerikanischen Netzzeitschrift "Wired" und diversen Cyber-Cheerleadern aus den USA vertreten wird.

Geert Lovink u. Vuk Cosic

Vielleicht trifft der Begriff "Mailingliste" für "nettime" schon gar nicht mehr zu. Aus dieser Mailingliste ist eine Art virtuelle Gemeinschaft geworden, wie Howard Rheingold sie in seinem berühmten, gleichnamigen Buch beschrieben hat. Irgendetwas nicht näher definiertes sollen wir nun alle, die wir uns hier in Ljubliana getroffen haben, gemeinsam haben.

"...nettime is a closed moderated mailinglist for net criticism, collaborative text filtering and cultural politics of the nets", steht auf der Homepage des Archivs von "nettime", die seit zwei Jahren von dem Amsterdamer Medientheoretiker Geert Lovink und dem Berliner Künstler Pit Schultz betrieben wird. Und in diesen zwei Jahren hat diese Liste ein interessantes Phänomen generiert, das Soziologen in den kommenden Jahren wohl noch reichlich Stoff zum Nachdenken geben wird. Aus einer technischen Infrastruktur ist eine soziale Situation geworden. Und die hat eine so starke Anziehungskraft entwickelt, daß Leute zum Teil auf eigene Kosten aus den USA, Australien und Japan nach Europa angereist kommen, um an einem Treffen in einer Stadt teilzunehmen, die sie ein paar Wochen vorher in manchen Fällen wahrscheinlich noch nicht mal auf der Landkarte gefunden hätten. Und bei dem sie fast nur Menschen treffen, die sie noch nie zuvor gesehen haben, obwohl sie sich zum Teil schon gut zu kennen meinen.

Mailinglisten sind quasi die Salons des Internets. Während in den Newsgroups jeder machen kann, was er will, ist bei einer Liste ein gewisses Minimum an sozialer Verbindlichkeit gegeben: Wer sich daneben benimmt, wird vom Moderator gerügt, oder fliegt eventuell sogar raus. Und Treffen wie das in Ljubliana tragen dazu bei, daß aus dieser virtuellen Gemeinschaft ein richtiges Netzwerk von Leuten wird, die aus fast allen Teilen der verkabelten Welt angereist gekommen sind. Es ist die interessante Mischung zwischen dem Avantgarde-Charakter einer selbsterklärten, intellektuellen Elite und dem oft hervorgehobenen basisdemokratischen, egalitären Charakter des Netzes, der dafür sorgt, daß so eine Liste eine soziale Bedeutung bekommen kann. Inzwischen ist "nettime" nach dem Geschmack ihrer "hosts" fast schon zu erfolgreich: man überlegt, die Liste für Neuzugänge zu schließen, weil sie befürchten, daß die virtuelle Gemeinschaft ein Anwachsen auf mehr als 400 oder 500 Mitglieder nicht überleben könnte.

Während virtuelle Gemeinschaften wie die Mailboxen "The Well", "Bionic" oder"Echo", die Anfang der Neunziger Jahre bekannt geworden sind, immer noch lokal definiert waren, ist "nettime" eine wesentlich internationalere Gemeinde. Sie spart zwar immer noch die berühmten weißen Flecken auf der Internet-Landkarte (wie Afrika oder Lateinamerika) aus, aber immerhin sind "Wessis" und "Ossis" bei dieser Veranstaltung fast in gleicher Zahl ertreten (wobei auffält, daß Leute aus der ehemaligen DDR bei solchen Treffen so gut wie nie dabei sind und scheinbar von der nach 1989 aufgebrochenen Wohlstandskluft zwischen Ost und West verschluckt worden sind).

Freilich: ganz so gleich sind wir dann doch wieder nicht. Während die West-Europäer auf eine gut organisierte Infrastruktur zurückgreifen können, um an solchen Treffen teilnehmen zu können (der Autor dieses Berichts reiste zum Beispiel bequem per Flugzeug an), ist es für viele Osteuropäer, die nicht mit Institutionen wie Universitäten oder Kunstschulen in Verbindung stehen, schon wesentlich schwieriger, zu so einem Treffen zu kommen. Die Leute vom "Riga E Lab", die seit einiger Zeit mit einem Radiosender im Internet sind, mußten zum Beispiel nicht nur mit dem Zug und per Anhalter durch verschiedene ehemalige Sowjetrepubliken reisen, um nach Slowenien zu gelangen, sondern dafür auch noch diverse Visa für die Anreise besorgen und bezahlen.

In so einer Situation kommt der Open Society Stiftung von George Soros eine große Bedeutung zu, weil sie in einzelnen Staaten der "Region" (wie der ehemaligen Ostblock im Vokabular der Stiftung heißt) inzwischen fast eine Monopolstellung bei der Förderung von Kunst und von Medieninitiativen hat. Fast alle Teilnehmer aus "Osteuropa" (ein problematischer, homogenisierender Begriff, der gerne durch Ex-Osten, Ex-Europa oder frühere Ostblockstaaten ersetzte werden kann) waren in irgendeiner Weise per "Soros-Ticket" nach Ljubljana gekommen.

Diana McCarty u. Inke Arns

Die Rolle von "Onkel Soros' Mafia" und anderen Non-Govermental Organisations (NGO) war zuvor schon auf "nettime" kontrovers diskutiert worden, nun ging die Debatte über dieses Thema in Ljubliana im "Meatspace" heftigst weiter. Und während die Diskussion auf "nettime" oft eher indirekt in lange, manchmal gut abgehangene Aufsätze mündete, konnte man sich in Ljubliana endlich einmal in Echtzeit flamen.

Etwas mehr von dem Verve, mit dem im Internet oft die Invektive fliegen, hätte man sich bei der Diskussion über "net.art" gewünscht. Der Thread über Kunst im Internet war in den letzten Monaten eins der interessantesten und langlebigsten Themen auf "nettime" gewesen. Aber der Vormittag, der der "net.art" gewidmet war, enttäuschte als die unergiebigste Sitzung der ganzen Veranstaltung. Dabei ist die Frage, ob es ein eigenes Genre der Netzkunst überhaupt gibt, und wenn ja, was seine Charakteristika sind, in den letzten Monaten immer aktueller geworden: Einige der auf "nettime" vertretenen Künstler sind zu Ausstellungen wie der "documenta" (Pit Schultz, Jodi, Heath Bunting) und der "ars electronica" (dito, außerdem Olia Lialina, Alexei Shulgin, Rachel Baker und Vuk Cosic) eingeladen worden.

In diesem Jahr dürfte es sich entscheiden, ob das neue Genre Netzkunst, das eigentlich gar kein neues Genre sein möchte, Einzug in die "richtige" Kunstwelt hält oder ob es - wie einst die Mail Art - der Zeitvertreib eines hermetischen Zirkels bleibt. "Einen explosionsartigen Anstieg des Interesses" an Netzkunst hat zum Beispiel Alexei Shulgin festgestellt, der zur Zeit bei der Ausstellung "A New Art Form" in Budapest ein neues Internet-Projekt realisiert. Da hätte eine Diskussion über das eigene Selbstverständnis durchaus interessant werden können.

Aber entweder ist dieses Selbstverständnis noch nicht formuliert, oder es ist eine Strategie, dieses für sich zu behalten. So stellt Shulgin schnell seine Arbeiten vor, dann beschreiben Geert Lovink und Pit Schultz ihr "workspace"-Projekt für die documenta, und dann driftet die Diskussions ins Nebulöse ab. Pit Schultz erklärt, daß die ganze Sache mit der Netzkunst nur ironisch zu verstehen und eigentlich ein Witz sei, und zum Schluß wurde über die Kosten von Serverplatz verhandelt.

Es scheint in der Natur des Internet zu liegen, daß es besonders solche Künstler anzieht, die den traditionellen Institutionen des Kunstbetriebs entkommen wollten, und die nun wenigstens so tun, als würden sie wenig Lust verspüren, sich von diesen wieder einatmen zu lassen. Als ich am zweiten Abend aus dem Saal komme, in dem Critical Art Ensemble eine Performance veranstalten, sehe ich wie das Künstlerpaar Jodi gerade vom slowenischen Fernsehen interviewt wird. Demonstrativ verdreht Dirk Hermskerken seine Augen zur Decke...

Ob diese Anti-Establishment-Haltung aufrecht erhalten wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall eignet sich Netzkunst denkbar schlecht, um den Ritualen des Kunstbetriebs neuen Anlaß zu bieten: Mal abgesehen davon, daß sie ihrer Natur nach schlichtweg unverkäuflich ist, dürfte auch ihre Präsentationsform Gallerien und Museen Probleme bereiten. Lange Reihen von Computermonitoren wie zuletzt bei den Osnabrücker Medientagen gesehen, sind in diesem Kontext nach wie vor kaum vorstellbar. "Netzkunst wird sinnlos, wenn man sie aus dem ihrem Kontext, das heißt aus dem Netz, nimmt", sagt Alexei Shulgin.

Luka Frelih, Netzadmin von Ljudmila

Eins der interessantesten Internet-Projekte, das bei "Beauty and the East" vorgestellt wurde, kam von der Gruppe ABSOLUTNO aus Novi Sad, die im Juli mit einer Website ans Netz gehen wollen, auf der man noch ungeborene Ost-Künstler ersteigern kann, um dann mit ihren Werken zu spekulieren. Doch bei der Begegnung mit Leuten aus dem ehemaligen Jugoslawien und anderen südosteuropäischen Staaten erfährt man auch gleich wieder die nach wie vor gravierenden Unterschiede zwischen Ost und West. In Novi Sad kann man sich nur in den frühen Morgenstunden einigermaßen verläßlich in den Internet-Server der Universität einwählen, um seine Email abzurufen; nach spätestens 20 Minuten wird man automatisch aus dem System geworfen. In der Kunsthochschule von Tirana gibt es überhaupt nur eine Telefonleitung, wie Edi Muka aus Albanien erzählt, weswegen der Internetanschluß noch etwas warten muß. Und in Rumänien werden CD-Roms derzeit vor allem von Taxifahrern benutzt, weil sie den Radar der Polizei reflektieren und darum vor Strafzetteln schützen...

Als eine Art Friedensangebot an die amerikanische Netzszene war es zu verstehen, daß auch David Bennahum, ein Mitarbeiter von "Wired", eingeladen worden war. Damit sollte dem "Wired"-Bashing, das lange Zeit das Profil von "nettime" geprägt hat, ein Ende bereitet werden. Bennahum behandelte in einem Vortrag die Ursprünge des Internets, und zeigte, daß diese Schöpfungsgeschichte vielen Netzmythen entgegensteht: Weder sei das Internet eine Erfindung des amerikanischen Militärs gewesen, noch sei es das logische Produkt einer unkontrollierten Entwicklung von quasi darwinistischer Logik gewesen.

Vielmehr hatten die "Väter des Netzes" eine genaue Vorstellung von dem, was sie schaffen wollten: ein dezentralisiertes, nicht-hierarchisches System zur Kommunikation und zum Austausch von Informationen. Und genau das sei das Internet - unter anderem durch die Mitarbeit einiger der Köpfe der amerikanischen Gegenkultur - auch geworden. Daß es nach wie vor Unterschiede zwischen amerikanischen und europäischen Netzdiskursen gibt, zeigte allerdings das Diskussionsverhalten einiger routinierter Konferenzplauderer aus den USA, die keine Sitzung vergehen lassen konnten, ohne einen wortreichen Beitrag vom Stapel gelassen zu haben.

Doch allen Differenzen zum Trotz: Wenn im K4, das für drei Tage vorübergehend zur nettime-Lounge geworden war, das große Licht ausgeschaltet wurde, waren zum Teil erstaunliche Annäherungen möglich. Und zur vorgerückten Stunde lagen sich in dem Kellerklub plötzlich sogar ein Amerikaner und eine Künstlerin aus dem Ex-Ostblock in den Armen. Kann es da ein Zufall sein, daß vier Tage später in Paris die Nato-Staaten und Rußland eine "Gründungsakte über die gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit" unterschrieben haben?

Homepage von "Beauty and the East"
www.ljudmila.org/nettime

Der "ZKP 4" Reader wird in den nächsten Wochen bei Ausstellungen, Konferenzen und anderen Kunstweltspektakeln verteilt.