Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört

Seite 3: Viel mehr Antidepressiva an deutschen Universitäten

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Ein Beispiel dafür, wie Änderungen in der Lebenswelt mit Änderungen der psychischen Gesundheit einhergehen, berichtete jüngst die Techniker Krankenkasse aufgrund der Analyse von Verschreibungszahlen psychopharmakologischer Medikamente bei Studierenden in Deutschland (Sind deutsche Hochschulen nur mit Psychopharmaka zu ertragen?). Auch wenn diesen Zahlen zufolge der Konsum von Medikamenten bei Studierenden sowie gleichaltrigen Erwerbspersonen allgemein gestiegen ist, galt dies insbesondere für Psychopharmaka: Während diese 2006 noch 8,7% des Arzneimittelkuchens Studierender ausmachten, waren es 2010 schon 13,5% - das ist ein Anstieg um 55%.

Einen sehr hohen Anstieg gab es gemäß den Zahlen des TK-Gesundheitsreports 2011 vor allem bei den Verordnungen von Antidepressiva. Nahmen die Studierenden 2006 noch durchschnittlich 5,3 definierte Tagesdosen dieser Medikamente zu sich, waren es 2010 schon 9,4 - das ist ein Anstieg um 79% in nur vier Jahren. Bei den jungen Erwerbspersonen gab es im selben Zeitraum einen leicht geringeren Anstieg von 3,5 auf 6,0 definierte Tagesdosen, also um 70%. Gemäß der Krankenkasse geht die Zunahme sowohl auf die Zunahme behandelter Personen als auch auf eine höhere verordnete Menge pro Person zurück.

Gehirn- oder Gesellschaftskrank?

Auch hier kann das biologische Modell der Psychiatrie keine vollständige Erklärung liefern. Wieso brauchen Studierende und andere junge Menschen in Deutschland 2010 1,7- bis 1,8-mal so viele Antidepressiva wie noch vier Jahre zuvor? Welche Gen- oder Gehirn-Veränderungen sollen dem entsprechen? Die Autoren der Techniker Krankenkasse führen die Zunahme bei Studierenden vor allem auf Veränderungen der Bologna-Reform zurück: Die Studienzeitverkürzung führe zu mehr Stress und die neuen Studiengänge ließen weniger Freiräume und Spielraum für die Persönlichkeitsentwicklung.

Dabei vergessen sie aber, dass die Zunahme bei den anderen jüngeren Erwerbspersonen zwar auf etwas niedrigem Niveau, mit 70% aber beinahe ebenso stark wie bei den Studierenden ausfiel. Die Änderungen der Bologna-Reform, die dem Einzelnen stets mehr Verantwortung zuschreibt und von ihm mehr Flexibilität erwartet, den Betroffenen jedoch weniger Freiheit für ihre Individualität lässt, scheint also nur ein Aspekt zu sein. Die in ihr umgesetzten Ideen entsprechen aber allgemeinen politischen Entwicklungen, von denen die gesamte Gesellschaft betroffen ist: mehr leisten, mehr Selbstverantwortung übernehmen, weniger Hilfe. Gleichzeitig verunsichern Krisen und Kriege die Menschen.

Wer einmal nicht so leistungsfähig ist wie gewünscht, der gilt schnell als gesellschaftlicher Kostenfaktor, wenn nicht gar als Verlierer - denn wenn er sich mehr angestrengt hätte, dann hätte er doch Erfolg haben müssen. Das Gesundheitssystem und vor allem Psychologie sowie Psychiatrie bieten hierfür zumindest vorübergehend ein Auffangbecken.

Vom kranken zum gesunden Gehirn

Gewiefte Neuro-Philosophen haben längst ihre Chance entdeckt und verweisen auf die Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit gesunder Menschen psychopharmakologisch zu steigern. Euphemistisch nennen sie dies Neuro-Enhancement. Quasi schon vorbeugend, bevor es zu einem Leistungseinbruch durch Überarbeitung kommt, lässt sich ihrer Meinung nach in Gesunden die Performance verbessern - und die Gesellschaft wie die Einzelnen seien tatsächlich gut daran beraten, dies zu tun.

Die Bio- und Neurowissenschaften haben zweifellos viele bahnbrechende Erkenntnisse geliefert, von denen sich einige schon in einer höheren Lebensqualität von Patienten ausdrücken. Im Bereich des psychischen Leidens lässt es sich aber nicht von der Hand weisen, dass auch Gehirn- und Genveränderungen soziale wie psychische Ursachen haben können. Die Gehirn- und Genprobleme sind dann zumindest manchmal selbst nur Symptome einer psycho-sozialen Störung. Warum sollte man aber ein Problem nur an seinen Symptomen behandeln und nicht an seiner Wurzel? Oder wie der Psychiatrieprofessor Thomas Fuchs es ausdrückt: Das Gehirn ist zwar das wichtigste Organ, es ist aber ein Beziehungsorgan.