Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört

Seite 2: Störung wird zur Normalität definiert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die führenden Epidemiologen versichern dennoch, dass es keine Zunahme der psychischen Störungen gibt. Diese Aussage unterliegt aber der Annahme, dass jeder Mensch, der ihren Untersuchungen zufolge eine psychische Störung hat, auch wirklich ernsthaft darunter leidet und ein potentieller Patient ist. Das dürfte in vielen Fällen auch zutreffen, in vielen jedoch auch nicht. So gibt es beispielsweise immer noch Menschen, die psychisches Leiden als festen Bestandteil eines Menschenlebens ansehen und bei entsprechenden Problemen andere Wege des Umgangs finden, als zum Arzt oder Psychologen zu gehen, beispielsweise Sport zu treiben, politisch aktiv zu werden oder Unterstützung im sozialen Umfeld zu suchen.

Überhaupt werfen solche Schätzungen im Bereich von 38-45% die Frage auf, was "Störung" hier überhaupt noch bedeutet, wenn es offensichtlich schon normal ist, mindestens einmal im Jahr gestört zu sein. Der zentrale Aspekt hierbei ist, ob es sich bei den Problemen dieser Menschen überhaupt um medizinische Probleme handelt; und selbst wenn dem so wäre, ob dann ein pharmakologischer, elektrischer oder operativer Eingriff in den Körper, vor allem das Gehirn, des Betroffenen die einzige beziehungsweise die beste Lösung für diese Probleme ist. Das biologische Modell ist in der Forschung inzwischen so dominant geworden, dass führende Wissenschaftler naheliegende Alternativen schon gar nicht mehr wahrnehmen.

Gesellschaft verschwindet vom Radar der Forscher

In der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Neuroscience erschien beispielsweise die Studie von der Neurowissenschaftlerin Cory Burghy von der University of Wisconsin und Kollegen, dass in der Kindheit erlebter Stress den Spiegel des "Stresshormons" Cortisol erhöht. Dies gehe ferner mit einer veränderten Funktionalität der Verbindungen von Amygdala und präfrontalem Kortex, die man häufig mit Gefühlsregulation in Zusammenhang bringt, im Gehirn adoleszenter Frauen einher. Dies sei schließlich mit häufigeren depressiven Symptomen dieser jungen Frauen verbunden.

Wie so häufig wird dieser Fund in einem begleitenden Kommentar mit der Überschrift Neuronale Einbettung der Stressreaktion des Psychologen Ryan Bogdan von der Washington University in St. Louis und dem Hirnforscher Ahmad Hariri von der Duke University in Durham als wesentlicher Erkenntnisfortschritt gefeiert. Als wichtige Forschungsfragen, die sich aus dieser Arbeit ergeben würden, nennen sie ausschließlich die Entwicklung von Medikamenten, die auf Hormonrezeptoren in der Amygdala abzielen, sowie das Finden genetischer Biomarker zur Identifikation des Erkrankungsrisikos.

Damit lassen sich den Forschern zufolge womöglich Angst- und Gefühlsstörungen sowie die damit einhergehenden negativen Konsequenzen für Individuen, Familien und Gesellschaften vermeiden. Die Frage, was denn die Ursachen des Stresses in der Kindheit sind, ob dieser vielleicht systematische Gründe in manchen jungen Familien hat und inwiefern es hier Hilfs- und Vorbeugungsmaßnahmen gibt, erscheint mit keinem Wort. Dabei wäre dies die sinnvollste Weise, ein Problem wie frühkindlichen Stress gar nicht erst entstehen zu lassen, anstatt erst abzuwarten und dann seine Symptome zu behandeln.