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Bemerkungen über eine cyberreale Architektur

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Während die Populärkultur ironischerweise die neue Interpretation des elektronischen Raums schnell übernommen hat, erkennen die Architekten nur sehr langsam die kulturellen Folgen der Computertechnik. Die meisten, selbst jene, die mit Computer umgehen können, sehen sie lediglich als Entwurfsmaschine. CAD-Modelle gelten nur als Vorschläge für künftige Gebäude. Anders aber als das Produkt einer normalen Entwurfsarbeit, besitzt das Objekt im Computer ein eigenes Leben - das sich zumindest jetzt zu befreien beginnt. Es geht um neue Gestaltungsstrategien, um die Verbindung zwischen der realen und der virtuellen Architektur, einer Architektur, die nicht mehr nur hier, sondern auch dort ist.

Das Objekt kann drei oder mehr Dimensionen besitzen. Es kann endlos hinterfragt und verändert werden. Es kann etwas anderes verkörpern oder Teil einer Gruppe sein, deren Elemente in bislang unbekannter Weise interagieren. Die vielen Dimensionen der Bedeutung im Cyberspace haben zu einer cyberrealen Architektur geführt, die in der architektonischen Disziplin zu dramatischen Folgen zeigen wird.

Stellen Sie sich beispielsweise vor, daß in einem Computer eine Bibliothek Gestalt annimmt. Jedes Detail wird genau durch die Verwendung herkömmlicher CAD-Techniken dargestellt. Dieses Mal aber wurde jedes Buch und jeder Film, die Bestandteile der Bibliothek sein sollen, in das Modell eingeschlossen. Wenn man sich durch die modellierten Regale bewegt, sehen wir jeden Band der geplanten Bibliothek auf den Regalen. Wenn wir stehenbleiben, um in ein Buch hineinzuschauen, sehen wir den ganzen Text mit den Illustrationen und nehmen wir vielleicht sogar einen Duft modriger Seiten wahr. Würde der wirkliche Bau einer solchen Bibliothek überflüssig sein? Könnte unser Modell den materiellen Bau in seiner Leistung sogar übertreffen?

Sagen wir einmal, daß das von uns geöffnete Buch ein mit Bildern versehener Text über die Arbeit von Carlo Mollino ist. Wenn wir das Buch öffnen und die Bilder ansehen, können sie Fenster in eine Welt sein, in der die Arbeiten von Carlo Mollino besucht, seine Entwürfe gebaut und frühere Bauwerke rekonstruiert werden können. Das wäre sehr schwierig materiell zu verwirklichen. Überdies kann unsere Bibliothek nicht nur von den Menschen der näheren Umgebung, sondern von allen online besucht werden.

Unser Modell hilft uns dabei, die in einer wirklichen Bibliothek sich befindende Information duchzuforschen. Jeder Gebäudetyp, der zur Informationsarbeit dient, könnte auf diese Weise umgewandelt werden. Schulen, Büros, sogar Museen. Die Raummetapher bestätigt das Werk eines Designers, ohne daß eine materielle Realisierung noch nötig wäre.

Neue Gestaltungsstrategien

Raummetaphern helfen Nutzern bei der Orientierung, die mit Computersystemen unvertraut sind. Beispielsweise repräsentiert die Desktop-Metapher, die bei vielen PCs verwendet wird, eine Datei mit einem Ikon, das einem Papierdokument ähnelt. Uns in einem Raum zu bewegen, ist eine der ersten Aufgaben, die wir als Kinder lernen. Die Bewegung in einem Raum läßt uns Beziehungen und Hierarchien erfahren. Das ist die grundlegende Logik räumlicher Metaphern in der Computertechnik. Strecken und Strategien werden eher intuitiv als rational erfaßt. Ein rein rationaler Ansatz beim Design dieses Interface kann eine Belastung sein. Gottfried Meyer-Kress vom Center for Complex Systems in Champagne-Urbana war Mitglied einer Gruppe, die VR-Schnittstellen für Computersysteme gestaltete. In einem Modell enthält ein gestaltloser Raum vier Schachteln mit verschiedenen Titeln für Themen. Wenn man eine der Schachteln betritt, stößt wiederum auf vier identische Schachteln. In diesen gibt es wieder vier und so weiter.

Obgleich diese Verschachtelung von Volumina rational erscheint, verliert der Benutzer nach den ersten Wiederholungen bereits die Orientierung. Meyer-Kress glaubt, daß man darüber einen anderen Level für die Orientierung legen muß, damit dieses System funktionieren kann, vielleicht einen, der auf der urbanen Form oder der Architektur beruht.

Das Modell der Stadt ist dafür geeignet, weil es normalerweise genügend Variationen und Details enthält, um einen Raum von einem anderen zu unterscheiden. Merkmale der Landschaft helfen uns bei der Orientierung im Freien, während Fenster und Türen unsere Verbindung zu äußeren Räumen aufrechterhalten. Die formale Struktur der Architektur ermöglicht es, daß wir uns im urbanen Raum zurechtfinden. Ohne sie müßten wir unsere Aktivitäten in jeder neuen, unmarkierten Umgebung neu erlernen.

Einige Arbeiten innerhalb des CAD-Paradigmas besitzen die Absicht, im Cyberspace Erfahrungen und die in ihm mögliche Flüssigkeit herzustellen. Der Architekt Steve Perella hat eine Reihe von Projekten für eine dramatische Architektur wechselnder Bilder und fließender Formen ausgearbeitet. Er sagt, daß seine Arbeit über die Oberflächen von Objekten und die Flüchtigkeit ihrer Bedeutung handelt. Weil seine Projekte von den ephemeren Erscheinungen des Cyberspace inspiriert sind, hören sie am Bildschirm auf und müßten im materiellen Raum verwirklicht werden.

Die cyberreale Architektur, einmal auf der anderen Seite des Bildschirms angelangt, läßt sich in drei Kategorien aufteilen: Gebäude als Artifakte, Gebäude als Funktionssysteme und synästhetische Architektur.

Gebäude als Artifakte sind architektonische Formen im Raum. Daher kommen sie vielleicht unserem gegenwärtigen Verständnis von Architektur am nächsten. Hier würde das Bauwerk ein Umwelt zum Erkunden sein, die nicht gebaut wäre. Edward Keller ist einer derjenigen, die in diesem Bereich arbeiten. Keller, der manchmal mit Perella zusammenarbeitet, hat eine Reihe von Werken geschaffen, die von physikalischen Zwängen befreit sind. Auch wenn sie meist spezifische Programme besitzen, liegt ihre Energie im dramatischen Wechsel der Formen, die dem Bildschirm entspringen.

Für das Team von Constantinos Terzidis und Emmanuel-George Vakalo stehen architektonische Programme nicht im Mittelpunkt. An der University of Michigan haben sie algorithmische Objekte im Cyberspace untersucht. Obgleich die meisten ihrer Formen abstrakt sind und der dekonstruktivistischen Aufsplitterung von Volumina ähnlich sind, eröffnen sie auch einen möglichen Erkundungsbereich. Ein Projekt, eine schwebende Wolke dunkler, kubusartiger Volumina, erinnert an die Majestät von manchen Gemälden Magrittes: das Unmögliche wird wirklich. Solche kulturellen Bezugnahmen trifft man nicht oft bei den mit der cyberrealen Architektur Beschäftigten an. Es könnte eine Möglichkeit darstellen, die Kultur in das einzubringen, was bislang ein abstrakter, intellektueller Raum ist.

Programme für den Computer und den Designer gestalten das Zentrum des Werks von Jim Leftwich und Clayton Graham. Sie haben in der Bay Area von Kalifornien zusammengearbeitet, um Betriebssysteme für Computer zu entwickeln, die räumliche Metaphern verwenden. Sie erkannten, daß die Kraft dieser Metaphern aus unserem intuitiven Erfassen von Objekten und Volumina rührt. Wenn sie auf die Computeroperationen angewendet werden, würde das Instrument mehr wie die Umwelt und weniger wie eine Maschine wirken, wie es sich Gibson vorstellt.

Leftwich, als Industriedesigner ausgebildet, hat viel bei der Entwicklung von Geräten und Grafiken für Computerschnittstellen geleistet. Seine Interesse an Virtueller Realität ließ ihn cyberreale Betriebssysteme erkunden, zu denen man über Handschuhe und Brillen Zugang besitzt.

Zuletzt hat er eine Schnittstelle für ein großes medizinisches Lieferunternehmen entwickelt, das mit Bildern aus der gewohnten Büroumgebung arbeitet. Das jetzige Programm könnte auf einem PC laufen, aber es könnte auch in immersiven virtuellen Umgebungen eingesetzt werden. Es könnte möglicherweise ein Format für die Verbindung von Telearbeitern mit ihren Büros im Unternehmen sein.

Clayton Graham, ausgebildeter Architekt, hat verschiedene Möglichkeiten ausgearbeitet, wie Computersysteme im Cyberspace dargestellt werden können. So zum Beispiel modulare Gebäudemaschinen, in denen sich Räume für bestimmte Computeranwendungen befinden. "Schließlich", sagt Graham, "kocht man sein Essen auch nicht im Bad. Warum also sollte man sich in einem anderen Raum befinden, wenn man zeichnet, als wenn man Flugblatt herstellt."

In der Gestaltung der Cyberspace-Objekte von Leftwich und Graham werden die Objekte durch die Interaktion begründet. Wer mit den Betriebssystemen Windows oder MacIntosh vertraut ist, wird verstehen, daß die auf dem Bildschirm angebotenen Menüs in zweidimensionalen Rechtecken dargestellt werden. Diese Rechtecke lassen sich beispielsweise mittels einer Maus anklicken, um Files zu öffnen oder Anwendungen zu starten. Wenn die Files durch dreidimensionale Bilder dargestellt würden, könnten die Benutzer ihre Inhalte, ihre Größe und ihre Verknüpfungen mit anderen Informationen sehen.

Ein weiterer Ansatz für eine cyberreale Architektur wird von Marcos Novak erkundet. Wenn die Architektur von Leftwich und Graham auf der Funktion basieren, so geht Novak von Materialien aus. Im Cyberspace wird die Form aus Information geschaffen. Sie kann auf viele Weisen zum Ausdruck kommen: als Musik, als Kunst oder als mathematische Theoreme. Sie kann in einer Art von High-Tech-Synästhesie auch von einer Form in eine andere übersetzt werden.

Im Zentrum von Novaks Werk befindet sich die Flüchtigkeit der Bedeutung. Seine Projekte einer "liquiden Architektur" beschreiben eine Form, die ihrem Informationsgehalt unterworfen ist. Wenn ein File größer wird, vergrößert sich auch dessen ikonische Darstellung. Grafische Files können durch Bilder repräsentiert werden, die aus ihrem Inhalt stammen. Ihre Masse kann unterstützende Informationen oder Subfiles darstellen. alles ist in Bewegung und ändert seine Form, wenn sich der Inhalt verändert.

Einige seiner Arbeiten beeinflussten die neueren Projekte von Graham. Ein wesentlicher Unterschied aber leigt im Formverständnis von Novak. Während Grahams Architektur Objekten der wirklichen Welt analog ist, so sind Novaks objekte digital. Ihre Form verändert sich mit ihrem Inhalt und mit der Wahrnehmung ihres Betrachters. Seine Welt ist eine der Nuancen und flüchtigen Augenblicken.

Zu Novaks Projekten für den Cyberspace zählen "Navigable Music" und "Disembodied Dance". Beide Projekte sollen die Beziehung zwischen dem Werk und dem Partizipierenden zum Ausdruck bringen. Die Bewegung beispielsweise in einer Datenlandschaft erzeugt in "Navigable Music" in Abhängigkeit von der Bewegungsrichtung eine bestimmte Melodie. Bei einem anderen Weg würde man eine andere Melodie hören, weil jeder Weg einzigartig ist.

Durch seine Arbeit gehört Novak zur Avantgarde des Cyberspace. Seine Bilder täuschen einen, und manchmal sind sie erschreckend. Ein Schwindelgefühl durchzieht manche seiner Visionen dieses neuen Raums, da in ihm die meisten Mittel, mit denen wir uns körperlich orientieren, fehlen. Noch verstörender ist der Gedanke, daß alles, was wir sehen, einzigartig sein kann und durch unseren besonderen Blickpunkt erzeugt wird.

Diese extreme Kontingenz kann sich jedoch auch als beschränkend herausstellen. Wenn alles einem solchen Relativismus unterliegt, wie könnte sich dann im Cyberspace eine Übereinstimmung einstellen? Welche gemeinsamen Werte könnten sich in einer virtuellen Gemeinschaft herausbilden? Wer würde der Bewohner des Cyberspace sein?

Die Architektur kann all diese Fragen nicht beantworten. Der Cyberspace ist noch immer "under construction", und der Benutzer der cyberrealen Architektur muß erst noch definiert werden. Für weitere Hinweise müssen wir woanders suchen.

Die Gefahren von Cyburbia

Es gibt bereits cyberreale Gemeinschaften. Man steckt schon beträchtliche Arbeit in den Aufbau und in die Analyse des Cyberspace. Der Vorläufer von Gibsons Matrix ist heute das Internet, die Mutter aller Netzwerke. Vor ihm gab es das ARPA-Netz der Militärs und zahlreiche elektronische Bulletin Board Systeme.

Während Bulletin Boards und das Internet als grundlegende Kommunikationsstrukturen fungieren, hat sich eine andere elektronische Umgebung herausgebildet, die man Multi-User Dungeoan oder MUD nennt. zu Beginn der 80er Jahre entwickelte ein englischer Student ein Computerprogramm, das in textueller Form die Szenarien des Spiels "Dungeons and Dragons" simulierte. Die Teilnehmer dieses Spiels schlüpften in verschiedene Rollen. Man konnte ein Zauberer oder eine Hexe werden und diese Rolle in einer mittelalterlichen Umgebung mit Burgen und gefährlichen Landschaften spielen.

Seitdem sind in den Netzen Hunderte von MUDs meist zum Zweck des Spielens entstanden. Das Problem mit den MUDs ist, daß sie zu elektronischen Themenparks werden. Zugrunde liegt ihnen das Rollenspiel von "Dungeons and Dragons", aber MUDs können auch andere Phantasieabenteuer, Science Fiction Welten oder sogar Star Trek selbst sein. Das Rollenspiel aber und der Aufführungscharakter ist allen gemeinsam. Was wäre ein MUD ohne eine Thema?

Amy Bruckman vom MIT und Pavel Curtis von Xerox PARC haben diese Frage durch die Schaffung von MUDs für Medienwissenschaftler beantwortet. LambdaMOO von Curtis ist ein Cyberspace, der sich über die materiellen Gebäude des Xerox PARC legt. Viele Menschen, die sich in das System einloggen und in LambdaMOO umherwandern, sind erstaunt, wie realistisch es ist. Wirkliche Besucher, die das MUD benutzen, können sich im Gebäude zurechtfinden, indem sie besondere Merkmale oder Zeichen erkennen, die sie online gefunden haben. Auch wenn LambdMOO die Straßen enthält, auf denen man zum wirklichen Gebäude gelangt, sagt Curtis, daß die meisten Besucher diese nicht benutzen und direkt in das Gebäude springen. Wenn sie sich einmal zurechtgefunden haben, beginnen sie im MUD umherzuwandern.

Amy Bruckmans MediaMOO am Media Lab des MIT verkörpert auch die Architektur eines Gebäudes. Einige der Räume wie der Tanzsaal im sechsten Stock sind cyberreale Erfindungen: das Gebäude hat nur vier Stockwerke. Da der Cyberspace keine spezifischen Merkmale besitzt, gehen MUD-Designer manchmal von der existierenden Architektur aus. Der Sinn solcher Gebäudedimensionen liegt in der Orientierungshilfe mittels räumlicher Hinweise für neue Benutzer.

Bis vor kurzem war die Schnittstelle mit dem Benutzer textbasiert. Grund dafür ware die begrenzte Kapazität der Leitungen, die grafische Information nicht zuließ. Man löste dieses Problem durch Umgebungen, die auf dem Computer des Benutzers abgespeichert waren. In diesem Fall werden nur die Veränderungen in der Umgebung übertragen, was die erforderlichen Rechenvorgänge erheblich verringert. Obwohl diese Technik interessant ist, können die dargestellten Räume erstaunlich banal sein.

Einige dieser virtuellen Welten wurden auf einem Symposium mit dem Titel "Electrotecture" diskutiert, das von ANY und dem Guggenheim Museum gesponsert wurde. Alluquere Stone, eine in die elektronische Kultur spezialisierte Soziologin, führte einige Dias von Fujitsus "Habitat" vor, ein kommerzielles MUD in Japan. Habitat, eine mittelgroße Stadt unter einem sonnigen Himmel, hat alle Eigenschaften einer idealen Stadt, wie sie Walt Disney sich vorstellte. Es gibt hier alles, angefangen von Häfen bis hin zu nebelverhangenen Bergen. Ihre Symmetrieachse wird vom Berg eines Zauberers mit einem Tempel abgeschlossen. Dadurch erhält man den Eindruck eines van Eyck Bildes, das von Care Bears gerendert wurde. Doch Hieronymus Bosch könnte wohl einen besseren Bezugspunkt bilden, wenn man von der aktuellen Verbrechensrate in dieser Stadt ausgeht.

Wenn ein neuer Bewohner nach Habitat kommt, kann er seine Repräsentation aus einem Menü an Körperteilen auswählen. Köpfe sind wichtige Besitztümer, denn sie zeigen den Status des Benutzers an und dienen als dessen Maske. Unlängst hat eine Diebesbande Köpfe gestohlen. Sie nähern sich einem Neuling und überreden ihn, seinen Kopf kurz auszuleihen, um dann mit ihm zu verschwinden. Trotz der Belästigung der Neulinge ist es fast eine Erleichterung, daß solche Übergriffe auch in einem Paradies vorkommen.

Identitätskrisen

Der Diebstahl von Köpfen stellt die Bedeutung der Identität des Benutzers auf dem Bildschirm heraus. Die Rolle von Masken im Cyberspace ist entscheidend, wenn man seine Gesellschaft verstehen will. Da die meiste Information auf dem Internet als Text übermittelt wird, verlassen sich die Benutzer auf Beschreibungen oder Namen, um sich zu identifizieren. Manche Mitbürger haben mehrere Namen, da sie mehrere Accounts bei Internetdiensten haben oder verschiedene Rollen im Internet spielen wollen. Umgekehrt kann jemand, der die Identität für den Netzzugang eines anderen benutzt, so tun, als wäre er dieser.

Nach Brenda Laurel von Interval Research, ist der Cyberspace eine Art psychologisches Theater, in dem die Mitwirkenden jeder Rolle spielen können. Es gibt Berichte über Fälle des Geschlechtertausches. Experimente im Rollenspiel haben viele soziologische und psychologische Untersuchungen ausgelöst. Shirley Turkle vom MIT hat beispielsweise über die mögliche therapeutische Rolle geschrieben, die MUDs für die Persönlichkeitsentwicklung spielen können. Amy Bruckman untersucht den Einsatz von MUDs für die Ausbildung.

Als ob die Flüchtigkeit der Identität nicht verwirrend genug wäre, gibt es auch Masken, hinter denen sich keine Personen befinden. Einige wie Gopher oder Veronica werden für die Suche nach Informationen in den datenbanken des Internet eingesetzt. Sie durchsuchen autonom das Internet und kehren mit dem Gefundenen zurück. In der Zukunft wird es weitere Agenten - Rodents oder Knowbots - geben, die auf andere aufgaben spezialisiert sind. Auch wenn sie gegenwärtig noch keine Persönlichkeit besitzen, können sie eine solche erhalten, indem sie einfach benutzerfreundlich werden.

Gegenwärtig geschehen gemeinschaftliche Aktivitäten meist in den MUDs oder den Bulletin Board Systemen. Im Gegensatz zur Zweideutigkeit der individuellen Identität im Netz, haben BBSs oder MUDs oft sehr spezifische Strukturen. Interessengruppen betreiben manchmal MUDs als einen gemeinsamen Raum für eine zerstreute Gemeinschaft. Es gibt elektronische Gemeinschaften für Frauen, Schwule, Alte und verschiedene ethnische Gruppen. Es gibt eigensinnige BBSs, die sich auf Body Piercing oder seltsame Sexualpraktiken spezialisiert haben. Es gibt sogar BBSs für Haßgruppen wie Neo-Nazis oder Mitglieder des Ku Klux Klan. Anders als in der wirklichen Welt haben diese Gemeinschaften meist nur ein einziges Thema, wodurch sie gleichzeitig zu Zufluchtsorten und Gettos werden. Wenn man sie aus derselben Perspektive des Rollenspiels betrachtet, dann werden sie jedoch zu nicht nur zu persönlichen, sondern auch zu sozialen Experimentierfeldern für die Benutzer.

Solche Gemeinschaften können für die Gesellschaft die Bedeutung haben, die CAD für die Architektur besitzt. Sie entwerfen eine mögliche Gesellschaft nach den Idealen von bestimmten Gruppen. Zusammen mit der Telearbeit und dem Teleshopping könnte dies zu dramatischen Veränderungen in den wirklichen Städten führen. Im weiteren Verlauf könnten diese entkörperten Gemeinschaften in größeren MUDs, in der Art beispielsweise wie Cybercity, miteinander verschmelzen. Das würde zu einer cyberrealen Urbanität mit unvorhersehbaren Folgen führen.

Die Infragestellung des Körpers

Die Form ist im Cyberspace nicht an die Zwänge der Wirklichkeit gefesselt. In ihm gibt es keine Sonne und keinen Horizont, keine Schwerkraft und keinen Widerstand. Ihm fehlen die Eigenschaften des wirklichen Raums, die unser Körper gewöhnlich benutzt, um sich in ihm zu bewegen. Die Architekten im Cyberspace können nichts als gesichert betrachten.

Im Cyberspace hat radikale Form nicht dieselbe Bedeutung wie in der Wirklichkeit. Eine zufällig im Cyberspace umgesetzte dekonstruktivistische Strategie ergibt keinen Sinn. Das Drama, den Ort und die Schwerkraft in einen Gegensatz zu stellen, verschwindet in einer Umgebung, in der beides nicht zu finden ist. Ohne eine Natur, an der sich Architektur orientiert oder gegen die sie gestellt wird, müssen wir uns auf kulturelle Konventionen stützen, um uns selbst zu verorten. Die abstrakten architektonischen Begriffe können hier sehr reale Auswirkungen haben. Rituale des Eintretens, erste Blicke und Gesichter, Achsen und Ecken werden für die körperliche Orienierung lebenswichtig. Ohne diese Mittel können für den Benutzer Unanehmlichkeiten, Schwindel und Übelkeit entstehen.

Man kann eine Strategie vom Theater und den Bildenden Künsten übernehmen. In der Malerei ist der Rahmen eine Vermittlung zwischen den bewohnten und den wahrgenommenen Universen. Im Theater ist dies der Vorhang. Beides sind Zugänge zum Künstlichen. Die virtuellen Steuerpulte und Instrumentenanzeigen in den populären Videospielen sind Beispiele für solche Rahmen. Auch wenn das, was man durch die Windschutzscheibe sieht, dynamisch ist, bleibt der Körper im virtuellen Fahrzeug vererdet. Andere Orientierungsformen müssen nicht so abstrakt sein. Wenn man etwas aus der Postmoderne bewahren sollte, dann wäre dies die Rolle, die das Gedächtnis bei der Bestimmung von Formen spielt. Das könnten Monumente sein, die sich in diesem Raum erheben und Rekonstruktionen von zerstörten oder nie realisierten Bauwerken sind. Wenn ein Bauwerk wie Gaudis Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona in der wirklichen Welt fertiggestellt sein würde, dann würde es aus dem Cyberspace langsam verschwinden. Der Pavillion von Mies van der Rohe in Barcelona wäre im Cyberspace aufgetaucht, als er das erste Mal zerstört wurde, um dann nach seiner Rekonstruktion wenige Jahre später wieder zu verschwinden.

Eine solche Überschneidung von wirklicher und cyberrealer Architektur könnte zu einer Hybridisierung von beiden führen. Eine verkörperte virtuelle Realität könnte Stellen enthalten, an denen das Cyberreale die Wirklichkeit berührt, wodurch ersteres vererdet und letzteres bereichert würde. Man könnte sich vorstellen, durch die Straßen von Rom zu gehen, wobei die Gebäude auf Wunsch ihre Geschichte darstellen. Cyberreale Anbauten an Museen und Büchereien könnten die Benutzung des Gebäudes durch seine Erweiterung in den Informationsraum verbessern.

Bewegung und Zustände

Ein wesentlicher Unterschieed zwischen dem realen und dem cyberrealen Raum betrifft Bewegung und Zeit. Während der materielle Raum uns dazu zwingt, nacheinander von einem Ort zu einem anderen zu gehen, kann man im Cyberspace unmittelbar von einem Zustand zum anderen übergehen. Auf einer Landreise müßten wir lange Strecken zurücklegen. Im Cyberspace können wir von New York nach Los Angeles springen, ohne beispielsweise in Denver eine Zwischenstation zu machen. Das ist einer der seltsamen Sachverhalte des Computerraums, der leicht mißverstanden werden kann.

Auf der Electrotecture-Konferenz in New York stellten manche Referenten die Geschwindigkeit in diesen Räumen hervor. Die Dias eines Architekten von erleuchteten Bauwerken, die durch die Bewegung einer Kamera verzerrt wurden, dienten sowohl zu seiner Vorstellung als auch zu der des Philosophen auf der Bühne. In der Architektur unterstreicht diese Vorliebe für Geschwindigkeit ein ästhetisches Programm, das auf der Spannung zwischen der Trägheit des Materials und dem Verlangen nach Bewegung basiert. Im wirklichen Raum kann die Bewegung den dynamischen Formen der aktuellen Architektur, besonders den dekonstruktivistischen Stilformen, angepaßt werden. Eile im Cyberspace macht jedoch keinen Sinn.

Probleme macht die Raummetapher in Computern, weil sie unser Verständnis des Cyberspace beschränken kann. Bewegung ist für jene am besten, die nach etwas suchen, gleich ob es sich um eine Information oder um eine bestimmte Perspektive auf ein Objekt handelt. Geschwindigkeit, eine Nowendigkeit im wirklichen Raum, ist lediglich eine Übergangssituation zwischen zwei Zuständen. Die Benutzer beschäftigen sich nicht mit der Information, bevor sich alles verlangsamt hat und sie den Zielort untersuchen können.

Wenn alle CAD-Dokumente, die es gibt, im Cyberspace gespeichert wären, würden wir feststellen, daß der Ausgangsort (0,0,0) unglaublich dicht ist, weil die Designer normalerweise ihre Zeichnungen oder Modelle ziemlich nahe an diesem beginnen, um ihre Arbeit daran auszurichten. Die Entwürfe der meisten Industriedesigner würde es vielleicht in einem Radius von einem oder zwei Metern um den Ausgangsort geben. Die Arbeiten von Architekten passen normalerweise in einen Radius von hundert Metern, die von Stadt- und Landplanern in einen Radius von hundert Kilometern. Jenseits dieses Radius wird unser existierender Cyberspace sehr leer.

Wenn wir uns zwischen diesen Dokumenten bewegen müßten, könnte dies entlang einer vierten Achse in einer Bewegung zwischen Zuständen von (0,0,0) geschehen. Von (0,0,0,0) nach (0,0,0,1) zu gehen, würde unmittelbar als eine einfache Zustandsveränderung geschehen. Die Bevorzugung einer solchen Bewegung vor einer gewohnten wurde bereits in dem zuvor erwähnten LamdaMOO demonstriert. Wenn man Benutzern die Wahlmöglichkeit gibt, über cyberreale Autobahnen in das MUD zu reisen oder direkt hineinzuspringen, dann entscheiden sie sich normalerweise für letzteres. Wenn sie einmal mit dem Zugang zum MUD vertraut sind, wird die Illusion der Gschwindigkeit überflüssig und außer Acht gelassen. Im MUD allerdings dient Bewegung dazu, den Raum zu durchforschen.

Die Metapher eines materiellen Raumes hat also ihre Grenzen. Ein besseres Modell ließe sich vielleicht auf dem Raumgedächtnis aufbauen. Erinnern Sie sich beispielsweise an eine Zeit in ihrer Kindheit, als Sie krank waren und unter der Decke im Bett lagen. Jetzt stellen Sie sich vor, daß Sie die Decke wegziehen, aufstehen und die Schlafzimmertür schließen. Dieses Beispiel zeigt zwei Bewegungsformen im mentalen Raum. Die erste situierte sie durch eine Bewegung zwischen Zuständen im Bett ihrer Kindheit. Die zweite ermöglichte es Ihnen, sich in den Raum oder Zustand zu bewegen, in dem sie sich befanden, und ihn zu manipulieren. Die erste Bewegung war statisch, die zweite dynamisch.

Die Bewegung zwischen Erinnerungen ist normalerweise nicht kontinuierlich. Meist gibt es in ihr keine Entfernung. Wenn man dieses Modell für den Cyberspace gebraucht, dann hätte dies mehrere Vorteile. Sich hier zu verirren wäre nicht so ein großes Problem wie in der Wirklichkeit, weil man einfach zu einem vorausgegangenen Zustand zurückkehren kann. In einem wirklichen Raum würde dies dem Wiederfinden von Schlüsseln gleichen, indem man sich an die Ereignisse erinnert, die nach ihrem letzten Gebrauch geschehen sind. Die Erkundung der Erinnerungszustände offenbart den Ort des Schlüssels.

Die erweiterte Wirklichkeit

Eine solche Verknüpfung eines materiellen Objekts und eines Zustands könnte ein viel versprechender Forschungsbereich im Design sein. Souvenirs sind materielle Orientierungspunkte für die Reise durch Gedächtniszustände. Die Untersuchung eines Souvenirs kann eine Menge von Erinnerungen herbeiführen. Das könnte ein Modell dafür sein, wie der Cyberspace und der wirkliche Raum interagieren können. Die Veränderung von bezaubernden Objekten im wirklichen Raum könnte zu Ereignissen im Cyberspace führen, die sich als Bewegung oder als Offenbarung zeigen.

Diese Verbindung zwischen Wirklichkeiten wird von Computerexperten unter dem Titel einer erweiterten Wirklichkeit oder einer verkörperten Virtuellen Realität diskutiert. Klar ist, daß die Auswirkung der Arbeit im Cyberspace in der materiellen Welt wahrgenommen wird. Das ist bereits jetzt in der Architektur der Fall. Auch wenn unsere virtuelle Bibliothek noch Jahre entfernt sein mag, wird die Auflösung bestimmter Gebäudetypen durch die Verbreitung von Bankautomaten vorweggenommen. Für William Mitchell ensteht daraus eine rekombinierte Architektur. Wenn wir einen Bankautomaten im Flughafen, in einer Studentenvereinigung oder in einem Einkaufszentrum finden, dann wird es Zeit, daß wir die Funktion von Gebäudetypen in unserer Gesellschaft überdenken.

Der Bau von Gebäuden, die informationsbezogene Programme beherbergen, würde dieser Dezentralisierung und Hybridisierung unterworfen sein. Beispiele dafür wären Bürogebäude, Museen, Theater, Schulen und, wie gesagt, Bibliotheken. Ein Gebäudetyp könnte einfach zu einem Symbol in der Weise werden, wie grafische Zeichen beim Computer gebraucht werden.

Eine andere Möglichkeit, wie sich das Cyberreale zeigen wird, wurde unlängst von Glenn Goldman und Steve Sdepski am New Jersey Institute of Technology ausgeführt. Sie glauben, daß die Interaktivität und der Unterhaltungswert von cyberrealen Umgebungen das Ende des materiellen Designs enleiten werden. "Menschen, die an die Echtzeit-Reaktionen des Cyberspace gewohnt sind, werden für die uns bekannte Architektur zu ungeduldig sein. Wenn die Architekten jetzt nicht aufpassen, werden die Special-Effect-Häuser in Hollywood die Erwartungen künftiger Klienten formen."

Wenn die Architektur zu einem Zweig der Unterhaltungsindustrie wird, dann ist das für diejenigen keine Überraschung, die über die Zukunft von Themenparks und Erlebniszentren nachgedacht haben. Für sie wird der Wandel notwendig sein, auch wenn es keinen Grund gibt, daß er total sein muß. Technische Revolutionen haben die Möglichkeit, in unsere Kultur aufgenommen zu werden.

Cyberreale Architektur wird die wirkliche Architektur ebensowenig ersetzen wie die Virtuelle Realität unsere eigene Wirklichkeit. Technik hat Folgen für alles, aber sie ersetzt nichts. Als das Telefon erfunden wurde, hatten die Menschen Angst, daß Unterhaltungen am Telefon die persönliche Begegnung ersetzen. Das trat nicht ein. Für die Menschen gab es nur einen weiteren Kommunikationskanal. Ohne das Telefon könnte man unsere gegenwärtige Gesellschaft nicht verstehen. Genauso unentbehrlich wird der Cyberspace werden. Es wird die zweitbeste Möglichkeit darstellen, hier zu sein.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer