Belarus und der Majdan der "Sozialschmarotzer"

Demo am 15. März. Bild: Screenshot von YouTube-Video

Höhepunkt der Proteste soll am Samstag stattfinden, die Opposition fürchtet, dass sich der Westen derzeit nicht für Weißrussland interessiert

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Aleksander Lukaschenko platzte letzte Woche der Kragen: "Einen Majdan wird es in Weißrussland nicht geben, hört auf daran zu denken und darüber zu reden."

Adressiert ist die im Fernsehen übertragene Drohung des weißrussischen Staatspräsidenten an die Demonstranten, die sich seit Ende Februar in den Städten des osteuropäischen Lands immer wieder versammeln. Lukaschenko fürchtet seit langem einen Aufstand wie in der Ukraine, der Ende 2013 auf dem Majdan-Platz in Kiew begann. Später nannte er die Protestierenden "eine fünfte Kolonne", aufgehetzt vom Westen.

Die zumeist älteren Menschen protestieren gegen ein Sozialgesetz mit dem drastischen Namen "Vorbeugung des Sozialschmarotzertums", das Menschen, die länger als sechs Monate nicht arbeiten, eine Art Sondersteuer aufzwingt. Am 20. Februar trat es in Kraft und belastet die Betroffenen mit umgerechnet 230 Euro pro Jahr, 470.000 Zahlungsaufforderungen sollen verschickt worden sein.

230 Euro sind viel. Denn das Durchschnittseinkommen liegt aktuell bei gerade einmal umgerechnet 353 Euro (720 weißrussische Rubel), das Bruttoinlandsprodukt ging im vergangen Jahr um knapp drei Prozent zurück. Aleksy Dzikawicki, Nachrichtenchef des oppositionellen TV-Senders "Belsat", erklärt auf Anfrage, dass sogar diese offiziellen Zahlen zu hinterfragen seien. "Auf dem Land sind sie schon froh, wenn sie umgerechnet 150 Euro im Monat haben." Offiziell gibt es kaum Arbeitslose in der ehemaligen Sowjetrepublik, aber die wirklichen Zahlen kennt niemand.

Demo am 15. März. Bild: Screenshot von YouTube-Video

Erstmals gehen die Wähler von Lukaschenko auf die Straße

Das Besondere an den Protesten, den größten seit den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2010: Erstmals gehen die Wähler von Lukaschenko auf die Straße. "Der Protest ist wirtschaftlich motiviert, nicht politisch", sagt Dzikawicki. Auch der Osten ist unruhig und dieser gilt als besonders mit Aleksander Lukaschenko verbunden, der seit 1994 das Land autoritär regiert. Zwar gingen in Städten wie Witebsk nur einige hundert Menschen auf die Straßen, doch normalerweise protestiert dort kaum jemand.

"Dekrete - nein, Arbeit - ja!" steht auf den Plakaten der Menschen, die sich in der Provinzstadt Babrusk am Sonntag versammelten, Lukaschenko wird via Megaphon von einer älteren Frau als "Dieb" beschimpft. Ein riskantes Unterfangen, denn es gilt im Lande ein besonderer Paragraph für Präsidentenbeleidigung.

"Wenn wir uns jetzt fürchten, auf die Straße zu gehen, dann werden wir uns immer fürchten", meint eine junge Frau gegenüber einem polnischen Fernsehsender. Viele Weißrussen bringt es auf, dass sie zahlen müssen, obwohl sie arbeiten wollen und keine Stelle finden können.

Regierung steht zunehmend unter Druck und geht hart gegen die Proteste vor

Anfangs hatte die Regierung die Proteste ignoriert. In den letzten Jahren vermied es Minsk generell, gegen Oppositionelle mittels Prügel und Haft vorzugehen. Schließlich herrschte im Land Apathie, die Regierungsgegner waren uneins und für die gewöhnliche Bevölkerung unglaubwürdig (Opposition im Duett). Doch in den letzten Tagen griff die Staatsmacht wieder zu alten Methoden.

Nach Angaben der regierungsunabhängigen Nachrichtenagentur Belapan wurden seit Anfang März 240 Menschen festgenommen, darunter mehrere Journalisten. Belsat berichtet, dass Journalisten, die über die Proteste berichten, mittlerweile Todesdrohungen von der Miliz erhalten.

Nach regierungsunabhängigen Medien sollen die Behörden immer rigoroser gegen die Demonstranten vorgehen. Gleichzeitig versuchen die Staatsmedien, die Bevölkerung von einer Gefährdung Weißrusslands von außen wie innen zu überzeugen. So sollen die weißrussische Anarchisten, die brutal verhaftet wurden, Waffen bei sich getragen haben.

Zudem macht die Nachricht von einem angeblichen Grenzdurchbruch die Runde. Lukaschenko erklärte am Dienstag, dass man bewaffnete Kämpfer fest genommen habe, die von Litauen, Polen und der Ukraine unterstützt wurden.

Der Druck steigt - zwar hatte Lukaschenko Anfang März das umstrittene Gesetz für ein Jahr auf Eis gelegt. Doch dies nutzte nichts, die Proteste gingen weiter. "Die Regierung hat nicht so viele Möglichkeiten, die Proteste einzudämmen, da ihr das Geld fehlt", sagt der Journalist von Belsat.

Noch verfängt die Angstmache nicht

Zu der allgemeinen Frustration über die soziale Misere kam hinzu, dass der Staatschef die Demonstranten als "Idioten" bezeichnet hatte. In einer Rede ging er davon aus, dass die Proteste von den Majdan-Organisatoren in Kiew instruiert werden.

Lukaschenko hatte schon 2014 verbreiten lassen, die ukrainischen Rechten könnten nach der erfolgreichen Revolte in Kiew Weißrussland angreifen. Auf dem Land horteten die Menschen darum Lebensmittel. Doch diesmal scheint die Angstmache nicht zu verfangen. Während der Anfang der Proteste spontan entstanden sein soll, übernehmen Oppositionelle nun deren Organisation.

Aufruf zur Demo am 25. März. Bild: charter97.org

Als kommender Höhepunkt der "Nicht-Schmarotzer" gilt der Samstag. Demonstrationen sind für Minsk, Witebsk und Gomel angekündigt. Am 25. März feiert die Opposition die Unabhängigkeit des Landes, der Termin geht auf den ersten Unabhängigkeitsversuch im Jahre 1918 zurück. Gewöhnlich stellt der Staat dann wichtige Oppositionelle unter Haft.

Der Tag wird dann zeigen, inwieweit die Protestbewegung an Stärke gewonnen hat. Mikalaj Statkewitsch, Sozialdemokrat und ehemaliger Oppositionschef, hofft auf eine so große Zahl, dass die Regierung zur Neuwahl gezwungen wird. Sowohl Statkewitsch wie Andrej Sannikau, der ebenfalls 2010 für das Präsidentenamt kandidiert hatte und inhaftiert wurde, betonen, dass die Proteste friedlich verlaufen müssten. Denn der Westen interessiere sich derzeit für Weißrussland nicht. Ein brutales Durchgreifen der Ordnungskräfte bliebe unbeachtet, zumal am gleichen Tag der EU-Gipfel in Rom steigt.

Auch geht in den regierungsunabhängigen Medien seit letztem Jahr die Befürchtung um, das russisch-weißrussische Großmanöver "Zapad 2017" (Westen) könne von Moskau genutzt werden, das Land militärisch zu besetzen.