Bereitet Kiew einen Krieg gegen die "Volksrepubliken" vor?

Präsident Poroschenko am Tag der Einheit (22.2.2018). Bild: president.gov.ua/CC BY-4.0

Ein gerade verabschiedetes Gesetz über die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität verzichtet jedenfalls auf jeden Bezug zu den Minsker Abkommen

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Am Donnerstag letzter Woche verabschiedete die Rada, das ukrainische Parlament, nach der zweiten Lesung das so genannte Reintegrationsgesetz, mit dem man sich Jahre Zeit gelassen hatte, mit einer nicht sonderlich hohen Mehrheit von 280 Stimmen von insgesamt 450. Ein erster Gesetzesentwurf war im Juni von der Regierung und dem Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat gebilligt worden. Nach dem Minsker Abkommen hätte eigentlich ein Gesetz "Über die zeitweilige Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in einzelnen Gebieten der Oblaste Donezk und Lugansk" erstellt werden müssen, das neue Gesetz soll hingegen vor allem militärisch neue Grundlagen und Befugnisse ermöglichen. Es soll, so hieß es im ersten Entwurf, die "notwendigen legalen und organisatorischen Bedingungen zur Wiederherstellung der territorialen Integrität in den Regionen von Donezk und Luhansk schaffen und die Möglichkeiten für die ukrainischen Streitkräfte und andere militärische Formationen erweitern, gleichzeitig soll nicht außerhalb des Rahmens der Minsker Waffenstillstandsabkommen gehandelt werden".

Auffällig ist, dass aus dem endgültigen Text des Gesetzes mit dem umständlichen Namen "On Peculiarities of the State Policy on Ensuring the State Sovereignty of Ukraine in the Temporarily Occupied Territories in Donetsk and Luhansk Regions" jede Erwähnung des Minsker Abkommens gestrichen wurde. Das macht klar, dass sich Kiew an das Abkommen, auf das vor allem die deutsche und die französische Regierung immer gedrungen haben, nicht mehr gebunden fühlt. Tatsächlich wurde von beiden Seiten über den Austausch von Gefangenen, den unvollständigen Rückzug schwerer Waffen von der Front und einen ständig verletzten Waffenstillstand nichts vorangebracht.

Andriy Parubiy, seit 2016 Parlamentssprecher, machte letztes Jahr den militärischen Kontext deutlich. Man habe nach dem Beginn der "russischen Aggression" nur zwei Möglichkeiten gehabt, nämlich eine Antiterroroperation oder die Einführung des Kriegsrechts. Das habe man aber nicht einführen können, weil damit Wahlen verhindert worden wären, die aber dringend nach dem Sturz der Regierung zur Legitimation erforderlich waren. Mit dem neuen Gesetz gebe es ein neues "legales Format für militärisches Vorgehen". Parubiy war einst Mitbegründer der rechtsextremen Sozial-Nationalen Partei der Ukraine, später Mitglied der Vaterlandspartei, während des Maidan eng mit dem rechtsextremen Dmytro Jarosch vom militanten Rechten Sektor verbunden, nach dem Sturz der Janukowitsch-Regierung vorübergehend Vorsitzender des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und entscheidend mit verantwortlich dafür, dass die zunächst separatistischen Proteste im Osten militärisch durch eine so genannte "Antiterroroperation" (ATO) bekämpft wurde.

Recht auf Selbstverteidigung

Vor der Abstimmung im Parlament hatte Präsident Poroschenko, der gerade unter Kritik wegen einer teuren Malediven-Reise steht, versichert, er werde das Gesetz unterzeichnen, sobald es angenommen ist. Schließlich sei das seine Strategie zur Wiedereingliederung der besetzten Gebiete. Das Gesetz sei eine "Technik" für die Rückkehr der Territorien. Für die Ukrainer sei der "Tag der Einheit" bitter, solange "die russischen Invasoren auf dem souveränen Land der Krim und von Swastopol, von Donezk und Luhansk gehen". Das Gesetz ermögliche Kiew das Recht auf Selbstverteidigung "gegen die bewaffnete Aggression" Russlands, würde aber gleichzeitig die Priorität einer friedlichen und politischen Lösung bestärken. Es sei "weder dem Geist noch dem Buchstaben nach ein Widerspruch zum Minsker Abkommen, wie das Moskau darstellen will".

Dann freilich ist seltsam, warum auch jede Verbindung zu dem Abkommen aus dem Gesetz entfernt wurde. Festgelegt wird, dass Russland ein angreifendes Land ist und dass Donezk und Luhansk "vorübergehend besetzt" sind. Angegeben wird aber nicht, seit wann Russland die Gebiete besetzt hat, es wird auch nicht von deren Bewohnern gesprochen. Russland habe "ein Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine" begangen und führe "eine temporäre Besetzung eines Teils ihres Territoriums mit der Hilfe von bewaffneten Formationen der Russischen Föderation, die aus regulären Einheiten und dem Verteidigungsministerium unterstellten Einheiten sowie Einheiten und Spezialkräften anderer Behörden" bestehen. Ansonsten wird von "illegal bewaffneten Gruppen, bewaffneten Gangs und Söldnergruppen" gesprochen, die mit den Russen die Gebiete verwalten.

Überdies wird dem Präsident das Recht zugesprochen, das Kriegsrecht auszurufen. Damit könnte er die Armee in der Ostukraine einsetzen, ohne einen Krieg zu erklären, und den Beginn und das Ende der "Maßnahmen" festsetzen, um die nationale Sicherheit zu wahren und die "russische Aggression" abzuwehren. Mit der Ausrufung des Kriegsrechts würde ein operativer Stab der Streitkräfte eingesetzt, um das Vorgehen zu koordinieren und die "besetzten Gebiete" zu kontrollieren. Es wird also von Maßnahmen, nicht von Krieg oder von einer Antiterroroperation gesprochen. Das Militär würde dann scharf den Grenzverkehr zwischen den Gebieten und der Ukraine kontrollieren. Der Präsident würde auch die Entscheidung treffen, ob russische Soldaten sich auf dem Territorium der Ukraine aufhalten.

Abgesehen von Geburts- und Todesurkunden werden alle Erlasse der "Besetzungsverwaltung der Russischen Föderation" als ungültig erklärt. Alle Personen, die sich an "der bewaffneten russischen Aggression" oder an der "russischen Besetzungsverwaltung" beteiligt haben, sollen strafrechtlich belangt werden. Die "Rechte und Freiheit der Zivilbevölkerung" sollen durch geeignete Maßnahmen geschützt werden. Für den gesamten "moralischen und materiellen Schaden" werden die Russen verantwortlich gemacht. In den an die Kampfgebiete angrenzenden "Sicherheitszonen" haben Sicherheitskräfte mehr oder weniger alle Rechte vom Gebrauch der Schusswaffe über die Festnahme von Personen und die Beschlagnahmung von Dingen bis hin zu Hausdurchsuchungen.

Das Gesetz scheint allerdings völlig in der Luft zu schweben, es sei denn, es ist ein militärischer Angriff geplant mit der Hoffnung, die Gebiete einnehmen zu können - und darauf zu hoffen, die Rückendeckung der USA bzw. der Nato zu haben, und darauf, dass sich Russland zurückhält.

Europarat fordert die Ukraine zur Überarbeitung des Gesetzes auf

Das Gesetz stößt freilich nicht nur in Russland und in den beiden "Volksrepubliken" auf erwartbare Kritik. Auch in der Ukraine sind viele damit nicht einverstanden, was auch die Abstimmung gezeigt hat. Valeria Lutkovskaya, die Kommissarin für Menschenrechte in der Rada, moniert, dass die Menschenrechte in der Konfliktzone verletzt würden.

Auch ukrainische Menschenrechtsorganisationen haben schwere Bedenken geäußert. Es bleibe offen, wie die Rechte der Bürger im Donbass geschützt werden sollen, die zusätzlichen Rechte des Militärs würden nicht kontrolliert oder es würden dem Präsidenten die Entscheidung über Krieg und Frieden ohne parlamentarische Zustimmung übertragen, was von der Verfassung nicht gedeckt ist.

Auf Ablehnung ist das Gesetz auch in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) gestoßen. Auf der Sitzung am 23. Januar wurde zwar die humanitäre Situation in den "besetzten Gebieten" als "Folge des anhaltenden russischen Kriegs gegen die Ukraine" bedauert. Verantwortlich gemacht werden aber "illegale bewaffnete Gruppen" gemacht, die den Zugang zu humanitärer Hilfe behindern, damit dürften ukrainische Milizen gemeint sein. 4 Millionen Menschen würden humanitäre Hilfe benötigen, 1,6 Millionen Menschen seien vertrieben worden, eine halbe Million würde nach Asyl in anderen Ländern, vor allem in Russland, suchen.

Es wurde eine Resolution angenommen, die alle Beteiligten aufruft, eine politische Lösung zu finden und das Leiden der Zivilbevölkerung zu beenden. Insbesondere müssten die Vertriebenen unterstützt werden. Verurteilt werden die angeblichen Versuche der russischen Regierung, die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung auf der "annektierten" Krim zu verändern. Dem stimmten 44 zu, 8 lehnten dies ab, 7 enthielten sich. Punkt 10 der Resolution, in dem Russland u.a. zur Beendigung der "finanziellen und militärischen Unterstützung der illegal bewaffneten Gruppen in den Regionen Donezk und Luhansk" oder die Aberkennung der Pässe und anderer Dokumente, die von den Behörden dort ausgestellt wurden, aufgefordert wird, stimmten lediglich 11 Abgeordnete zu, darunter 6 von der Ukraine, aber auch 2 von der Türkei. Das ist schon bemerkenswert.

Punkt 11 der Resolution beschäftigt sich mit der Ukraine, in der diese u.a. aufgefordert wird, endlich dem Internatioanlen Strafgerichtshof beizutreten oder die humanitäre Hilfe für die Menschen zu erleichtern. Vor allem aber wird Kiew hier aufgefordert, das gerade verabschiedete Reintegrationsgesetz zu überarbeiten. Es müsse auf dem Minsker Abkommen basieren und "den sozialen Schutz und die grundlegenden humanitären Bedürfnisse der Zivilbevölkerung in den vorübergehend besetzten Gebieten voll garantieren". Der Punkt wurde einstimmig angenommen, woraus man schließen kann, dass das Misstrauen gegenüber Kiew ziemlich groß ist. Das Gesetz selbst selbst - Nr. 3 - scheinen 42 zu begrüßen und 16 abzulehnen, 9 enthielten sich der Stimme.