Berufspolitiker: Die Totengräber der Demokratie

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 6

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Diese Folge der demokratiekritischen Artikelreihe des Allensbacher Politologen und Wissenschaftsjournalisten Wolfgang J. Koschnick beschäftigt sich mit der Tatsache, dass die meisten Politiker heute Berufspolitiker sind. Die Vertreter der politischen Parteien in den Parlamenten haben sich als Staat im Staat eingerichtet und den Staat zum Parteienstaat umgebaut. Dieses Machtkartell entscheidet über alles, was im Staat vor sich geht: über die Staatsschulden, das Bildungs- und Gesundheitswesen, über Steuern und Abgaben, Gerichtsstandorte und den Straßenbau. Fast unmerklich hat sich der Parteienstaat zum Machtmonopol entwickelt, das sich dem Volk - immerhin dem Verfassungssouverän - völlig entfremdet hat.

Der unbestreitbar ideale Politiker ist ein Mensch, der wirtschaftlich, politisch und weltanschaulich von niemandem abhängt und seine Entscheidungen frei von äußeren Einflüssen fällt - ein Mensch also, den man in der realen Politik von heute vergebens sucht.

Die überwältigende Mehrheit der heute agierenden Politiker besteht aus Berufspolitikern. Sie gehen aus den politischen Parteien hervor, gelangen von dort in die Parlamente - den Bundestag, die Länderparlamente und das Europaparlament und in die Kreistage, die Stadt- und Gemeinderäte - und wirken von dort aus wiederum in die politischen Parteien hinein.

Will man die politischen Entscheidungsträger in Deutschland bündig beschreiben, so kann man sagen: Es ist eine kleine, aber mächtige Gruppe von Berufspolitikern - von Leuten, die von der Politik und für die Politik leben. Politische Beobachter schätzen, dass die "politische Klasse" in Deutschland aus ungefähr 10.000 bis 20.000 Personen besteht.1

Die Vertreter der politischen Parteien in den Parlamenten haben sich als Staat im Staat eingerichtet und den Staat zum Parteienstaat umgebaut. Dieses Machtkartell entscheidet über alles, was im Staat vor sich geht: über die Staatsschulden, das Bildungs- und Gesundheitswesen, über Steuern und Abgaben, Gerichtsstandorte und den Straßenbau. Fast unmerklich hat sich der Parteienstaat zum Machtmonopol entwickelt, das sich dem Volk - immerhin dem Verfassungssouverän - völlig entfremdet hat.

In allen Parlamenten, am stärksten aber im Bundestag, setzt sich der Typus des Berufspolitikers durch. Selbst diejenigen, die es noch nicht sind, streben danach, die Politik zu ihrem Beruf zu machen. 350 der 622 Bundestagsabgeordneten geben als Beruf "Mandatsträger" an. Sie sind bereits Berufspolitiker. Das sind weit mehr als die Hälfte aller Abgeordneten.

Die meisten Abgeordneten des 17. Bundestags, der 2009 gewählt wurde, haben bereits dem 16. Bundestag angehört: 420 von ihnen. Nur 200 Abgeordnete sind erstmals im Bundestag - und das sind im Vergleich zu früheren Legislaturperioden sogar ziemlich viele. Wer einmal im Parlament ist, kommt immer wieder hinein, wenn er will und in der Zwischenzeit keine silbernen Löffel gestohlen oder gegen die Fraktionsdisziplin verstoßen hat. Die Strukturen verfestigen sich von Wahl zu Wahl.

116 Abgeordnete gehören dem Bundestag seit fünf und mehr Legislaturperioden an, das heißt seit 20 und noch mehr Jahren; 184 seit 16 und mehr Jahren, 307 seit 12 und noch mehr Jahren. Mit anderen Worten: Wer einmal im Parlament sitzt, der bleibt dort in aller Regel, wenn er nicht stirbt, freiwillig in den Ruhestand geht oder das Missfallen seiner Fraktionsführung erregt hat. Wer Abgeordneter ist und wiedergewählt werden möchte, kann sich darauf verlassen, dass ihn seine Partei wieder nominiert. Gegenkandidaten gegen Mandatsinhaber gibt es so gut wie nie.

Zur Dominanz der Berufspolitiker hat wesentlich das Wahlsystem aber auch generell das demokratische System der Wahlen überhaupt im Verein mit der Herrschaft der politischen Parteien beigetragen.

Wahlen geben den Bürgern keinen wirklichen Einfluss auf die Politik. Den haben wenige Parteifunktionäre und -politiker, nicht einmal die sonstigen Parteimitglieder. Bei Wahlen ist in der Regel schon vorbestimmt, wer siegt oder verliert: Viele Wahlkreise sind für eine der großen Parteien absolut sicher. Und die kann damit den Bürgern ihren jeweiligen Abgeordneten, so beurteilte es das Bundesverfassungsgericht, "faktisch diktieren"2.

Hochburgen der Union wie Paderborn, Biberach oder Straubing haben einen besonders hohen Anteil an Katholiken und liegen meist in ländlichen Gegenden. Hochburgen der SPD sind Arbeitermetropolen, insbesondere Ruhrgebietsstädte wie Gelsenkirchen und Duisburg. Hier kann die Mehrheit aus innerer Bindung heraus gar nicht anders, als Kandidaten zu wählen, die "ihre" Partei präsentiert.

Die Wahlergebnisse stehen schon Monate vor der Wahl fest

In ländlichen Gegenden Bayerns bedeutet die Aufstellung eines CSU-Kandidaten in einem Wahlkreis einen so gut wie hundertprozentigen Wahlsieg ebenso wie in einer norddeutschen Großstadt die Aufstellung eines SPD-Kandidaten einen ebenso sicheren Wahlsieg verheißt. Das Ergebnis steht schon vorher fest. Von diesen Regeln gibt es nur wenige Ausnahmen.

Doch darüber hinaus sind durch das konkrete, in Deutschland auf allen Ebenen vorherrschende Misch-Wahlsystem aus Direktwahl in Wahlkreisen und Listenwahl Mechanismen eingebaut, die das Monopol der politischen Parteien bei der Aufstellung der Kandidaten festschreiben.

Die Parteien allein legen fest, wer am Ende gewählt wird; denn allein in ihrer Hand liegt die Entscheidung darüber, wer in sicheren Wahlkreisen oder auf den vorderen Listenplätzen aufgestellt wird, auf denen ihre Wahl auch dann sicher ist, wenn die Partei in der tatsächlichen Wahl nicht so gut abschneidet.

Eine realistische Chance, ins Parlament gewählt zu werden und an politischen Entscheidungen mitzuwirken, besteht nur über die politischen Parteien. Sie stellen die Wahlkreiskandidaten und die Landeslisten auf und entscheiden damit lange vor der Wahl über die personelle Zusammensetzung des Bundestags und der Länderparlamente. Die Parteien kennen ihre "sicheren Wahlkreise" und beugen Überraschungen durch die Landeslisten vor.

Bei Bundestagswahlen kann jeder Wähler mit der Zweitstimme nur starre Parteilisten ankreuzen, auf denen die Reihenfolge der Kandidaten unabänderlich feststeht. Wen die Parteigremien auf einen "sicheren Listenplatz" gesetzt haben, der ist praktisch schon gewählt. Auf den Ausgang der Wahl braucht er nicht zu warten.

Da es bei der Wahl selbst gegenüber der jeweils vorangegangenen Wahl stets nur um Abweichungen um ein paar Prozentpunkte geht und deren genauer Umfang in der Regel auch schon längere Zeit vor der Wahl einigermaßen kalkulierbar ist, steht vor jeder Wahl längst fest, wer gewählt ist und wer nicht.

Selbst wer im Wahlkreis verliert, ist oft auf der Landesliste abgesichert und kommt so dennoch ins Parlament. Und gegen diese Entscheidung der Parteien sind die Wähler machtlos. Sie können nichts dagegen ausrichten. Die Parteien entscheiden, und die Wähler müssen zuschauen.

Analysen zahlreicher Wahlen haben gezeigt, dass gut drei Viertel aller Abgeordneten feststehen, bevor die Wahl überhaupt stattgefunden hat. Durch die "eigentliche Wahl" segnen die Wahlberechtigten nur noch ab, was die inneren Führungszirkel der politischen Parteien längst vor ihnen - und zum überwiegenden Teil hinter verschlossenen Türen - beschlossen haben.

Vox populi - Vox Stimmviech

Die Wähler wissen ja noch nicht einmal, wen sie da wählen, wenn sie ihre Zweitstimme abgeben; denn auf den Stimmzetteln stehen nur zwei, drei Spitzenkandidaten der Parteien. Wer sonst auf der Liste platziert ist, können sie nicht erkennen.

Sie könnten es theoretisch zwar in Erfahrung bringen, wenn sie es denn unbedingt wissen wollen, indem sie Einsicht in die Wahllisten nehmen. Aber das ist umständlich, und wer tut das schon? Selbst dann erfährt er nur, was sowieso unabänderlich ist und er nicht mehr beeinflussen kann. Die Wähler müssen nehmen, was die Parteien ihnen vorsetzen. Die komplette Liste. Das Prinzip ist ganz einfach: Friss' Vogel oder stirb'. Eine Wahl haben sie nicht.

Doch auch mit der Erststimme hat der Wähler meist keine Wahl. Richtig ist zwar, dass die Wahlkreiskandidaten persönlich um die Erststimmen werben. Wer die meisten Stimmen erhält, zieht in den Bundestag ein, sodass die Wähler den Eindruck gewinnen, sie träfen wirklich eine Auswahl.

In Wahrheit haben nur Kandidaten der großen Parteien überhaupt die Chance, einen Wahlkreis zu gewinnen. Aber auch von ihnen sind viele zusätzlich über die Liste abgesichert. Sie kämen auch dann in den Bundestag, wenn sie keine einzige Erststimme erhielten.

Alles Wahlkampfgetöse ist nur Inszenierung, um darüber hinwegzutäuschen, dass der Bürger in Wahrheit gar nichts mehr zu entscheiden hat. Der interne Funktionärszirkel in den Parteien hat festgelegt, wie die Wahlen abgewickelt werden, und vor allem, wer gewählt wird und wer nicht, und so läuft das dann ab.

In der SPD gilt sogar die Regel, dass nur Personen auf die Landesliste kommen, die in einem Wahlkreis kandidieren. Ausnahmen gibt es da so gut wie keine. Nur für sehr exponierte Politiker wie Gerhard Schröder und Franz Müntefering wurde sie gemacht. Einem parteilosen Wirtschaftsminister, der in keinem SPD-Wahlkreis kandidieren wollte, verweigerte die Partei dagegen sogar einen aussichtsreichen Listenplatz. Da sind die kleinen kleinkarierten Funktionäre in den Wahlkreisgremien eisenhart und lassen nicht mit sich handeln.

Lebenslüge des demokratischen Wahlsystems

Es ist also eine grandiose Lebenslüge des demokratischen Wahlsystems zu behaupten, dass die Wähler über den Ausgang von Wahlen bestimmen. Sie bestimmen bestenfalls über ein paar Grenzfälle in "kippeligen" Wahlkreisen oder auf den hinteren Positionen auf Landeslisten.

Die große Mehrheit der Abgeordnetensitze haben die Funktionsträger in den politischen Parteien längst vor den Wahlen und ohne jede Mitwirkung der Wähler verbindlich festgelegt. Durch ihre "Wahl" entscheiden die Wähler nur noch über einige wenige Positionen, die auf der Kippe stehen. Die Wähler dürfen nur gewissermaßen noch ein wenig die Ränder begradigen.

Es ist eine der Absurditäten der demokratischen Systeme, dass - wenigstens dem Anspruch nach - die Meinungsvielfalt der Gesellschaft ausgerechnet durch politische Parteien und Verbände gewahrt wird, die in den eigenen Reihen selbst Spuren von Meinungsvielfalt unterdrücken und abwürgen.

Ihre Kandidaten wählen die politischen Parteien vor allem nach dem Maß ihrer Parteikonformität aus. Wer seiner Partei in der letzten Zeit treu gedient hat, sich im Ortsverein nichts zuschulden kommen lassen hat, nicht unangenehm aufgefallen ist, der hat als Kandidat gute Chancen.

Die Positionen als Abgeordnete sind nicht selten die Belohnung für langjährige Parteiarbeit, für Engagement und Konformität. Die Ämter werden also nicht nach Gesichtspunkten der Leistung oder der Qualifikation vergeben, sondern nach dem Gesichtspunkt des "Verdienstes" aus der Sicht von Parteifunktionären, also der Treue zur Partei - und in günstigen Fällen nach den Aussichten auf einen Wahlsieg mit Hilfe des einen oder anderen Kandidaten.

Abweichler haben geringe oder überhaupt keine Chancen. Die Leistung oder Leistungsfähigkeit eines Kandidaten zählt kaum. Sie ist im Prinzip eher schädlich; denn leistungsfähige Querköpfe ecken in den Parteigremien schon mal an. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht ganz gewiss nicht das Gemeinwohl, sondern der Machterhalt oder Machtgewinn der politischen Partei.

Parteitreue wird mit politischen Ämtern belohnt

Die Entscheidung für die Übernahme von Parteipositionen erfolgt insbesondere dann, wenn die betreffenden Personen individuell die politische Karriereperspektive (und damit zusammenhängende Ziele wie Selbstverwirklichung, Macht, Einkommen, Versorgung etc.) aussichtsreicher einschätzen als die Zielerreichung in ihrer "bürgerlichen Existenz", das heißt in ihrem eigentlichen Beruf, sofern dieser nicht ohnehin im Bereich von Politik, Interessengruppen, Verbänden, Verwaltung etc. angesiedelt ist.

Jörn Kruse

Wer Berufspolitiker werden will, muss sich daher auch relativ früh festlegen. Je später er das tut, desto schlechter sind seine Karrierechancen:

Die personellen Netzwerke und Seilschaften, die für politische Karrieren und Einfluss erforderlich sind, kann man vor allem dann aufbauen, wenn man möglichst schon der Jugendorganisation der Partei aktiv angehört hat.

Jörn Kruse

Um gewählt zu werden, brauchen Kandidaten dann am Ende nicht viel mehr als die Nervenstärke, die Ochsentour durch die Parteigremien zu durchlaufen und die Techniken des Machterwerbs und -erhalts zu beherrschen. Sie müssen ansonsten keinerlei Qualifikation haben.

Qualifikation braucht ein Berufspolitiker nicht

Man muss sich das vor Augen führen. Die Mitglieder eines Gremiums, das - im Falle des Bundestags - im Rahmen seines Haushaltsrechts über mehrere hundert Milliarden Euro zu entscheiden hat und tatsächlich auch darüber entscheidet, brauchen dafür keinerlei spezielle Vorbildung. Sie müssen vor allem über genügend Zeit verfügen - das tun die meisten Angehörigen der Berufe, die in den Parlamenten überrepräsentiert sind - und sie sollten nicht zu oft den Wohnort wechseln. Das schadet bei der Ochsentour.

Richard von Weizsäcker fällte über die Fähigkeiten von Abgeordneten ein vernichtendes Urteil:

Bei uns ist ein Berufspolitiker im Allgemeinen weder ein Fachmann noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft.

Richard von Weizsäcker

Und so ähnlich sieht das auch der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis:

Die Malaise ist, dass die Politiker nicht mehr die Kenntnisse haben, die sie haben müssten. Sie kommen als Lehrer in den Bundestag und verstehen von nichts etwas - außer davon, wie man im Ortsverein seine Mehrheit organisiert. Zudem mangelt es ihnen an genau jenen Fähigkeiten, die nach Max Weber den guten Politiker auszeichnen: Augenmaß und Urteilskraft, dem "Pathos der Distanz".Wilhelm Hennis

Dementsprechend sieht es auch bei den Ministern mit der fachlichen Qualifikation eher düster aus. Hochqualifizierte kommen bei ihnen so selten wie bei den Abgeordneten vor. "Also sitzen um den Kabinettstisch viele Leute, die außerhalb der Politik eher Mühe hätten, in Spitzenpositionen zu kommen."3 Berufspolitiker sind Dilettanten der Politik. Das ist leider kein Wortspiel. Dazu schreibt Hans Herbert von Arnim:

Ein Ausbildungsgang für Berufspolitiker scheiterte bisher … an einem Dilemma: Was für die Karriere von Politikern am wichtigsten ist, kann man offiziell nicht lehren, ohne das sorgfältig abgedunkelte innere Wesen des Systems aufzudecken. Und das, was man lehren könnte, also die Bedingungen und Konsequenzen rationaler, am Gemeinwohl orientierter Politik, ist für das persönliche Fortkommen eines Politikers nicht wirklich wichtig, sondern oft geradezu hinderlich.

Hans Herbert von Arnim

Festzuhalten bleibt: In der Leistungsgesellschaft gilt das Prinzip, dass leistungsfähig sein muss, wer einen Posten besetzt, und dass Voraussetzung für einen hohen Verdienst eine hohe Qualifikation ist. Und ausgerechnet diese Leistungsgesellschaft leistet sich den unerhörten Luxus, ihr vorgeblich vornehmstes Verfassungs- und politisches Entscheidungsorgan mit Leuten zu besetzen, die per se keinerlei fachliche Qualifikation für ihren Beruf zu haben brauchen.

In den entwickelten repräsentativen Demokratien stellt die Art der Auswahl von Berufspolitikern eine von vielen Schwachstellen des politischen Systems dar. Die Personalauswahl wird durch das Instrument der Wahlliste bestimmt, und hier dominieren Einflusscliquen und Seilschaften. Für den Berufspolitiker wird der Kampf um seine Wiederaufstellung zur persönlichen Existenzfrage, und führt er ihn gnadenlos.

Teil 7:

In der 7. Folge unserer demokratiekritischen Artikelreihe geht es um den "Staat als Selbstbedienungsladen der Politik". Heute lassen sich die Politiker und ihre politischen Parteien von den Steuerzahlern mit Millionenbeträgen aushalten. Ohne öffentliche Gelder könnten sie keine zwei Tage überleben.