Bildungsministerium will den Euromaidan als neuesten Nationalmythos etablieren
Seite 2: Entzweiende Erzählungen vom Zweiten Weltkrieg
- Bildungsministerium will den Euromaidan als neuesten Nationalmythos etablieren
- Entzweiende Erzählungen vom Zweiten Weltkrieg
- Opfermythos Holodomor
- Russland als ewiger Unterdrücker
- Euromaidan als neuester Mythos
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Noch wichtiger sind in diesem Zusammenhang jedoch die Mythen neuerer Zeit. Da wären etwa die gegensätzlichen Erzählungen vom Zweiten Weltkrieg: Auf der einen Seite der sowjetische Mythos vom "Großen Vaterländischen Krieg" als gemeinsamer Sieg der "sowjetischen Brudervölker" gegen deutsche faschistische Aggressoren.7 In Russland wirkt dieses Narrativ bis heute vereinigend.
In der Ukraine hingegen, wo auch ein großer Teil der Bevölkerung diesem Mythos folgt, sieht es anders aus. Hier gibt es nämlich auch noch den Mythos vom (west-)ukrainischen Freiheitskampf sowohl gegen deutsche als auch gegen russische Besatzer. "Die Erinnerung an den Weltkrieg hat die Bevölkerung in der Ukraine bislang eher entzweit", so Maier.
Heldenmythos Befreiungskampf
Wichtigste Akteure im nationalukrainischen Mythos vom Befreiungskampf ist die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die von ihr, genauer gesagt von ihrer Bandera-Fraktion8, 1942 aufgestellte Ukrainische Aufständische Armee (UPA). Beide Gruppen hätten heldenhaft für die Befreiung erst vom nationalsozialistischen dann vom kommunistischen Joch der Ukraine gekämpft, so der Mythos, den vor allem die große ukrainische Diaspora in Nordamerika in den Nachkriegsjahrzehnten umfassend ausarbeitete.9
Die UPA, die mit bis zu 100.000 Soldaten in der heutigen Nordwestukraine aktiv war, bekämpfte zwar auch phasenweise die deutschen Besatzer.10 Doch, da sind sich deutschsprachige Historiker ziemlich einig, waren die Hauptgegner der UPA sowjetische und polnische Partisanen, die ebenfalls in diesen Regionen agierten. "Erst in dritter Linie kämpfte die UPA auch gegen deutsche Behörden, Polizeikräfte und Truppen", schreibt etwa der Wiener Osteuropahistoriker Andreas Kappeler.11
Die verbale Abgrenzung der OUN/UPA gegenüber den deutschen Nazis im Verlauf des Krieges und das Bekenntnis zu demokratischen Zielen seien nur "taktisch" gewesen, um sich den Westalliierten anzudienen.12
Die UPA kämpfte auch nach Kriegsende 1945 sowohl in der Westukraine gegen sowjetische Polizeitruppen, als auch in Polen gegen die dortigen Behörden. 1947 gelang der polnischen Armee der entscheidende Schlag gegen die Nationalisten. In der ukrainischen Sowjetrepublik dauerten die verlustreichen Kämpfe bis weit in die 1950er Jahre an. So war die UPA als heldenhafte Institution in der Ukraine lange Zeit nicht mehrheitsfähig. Laut der Studie von Münz und Ohliger sahen 1997 nur rund 23 Prozent der Ukrainer die UPA positiv (Bandera sogar nur 16,5 Prozent).13
Helden dürfen nicht beschmutzt werden
Doch der Mythos vom anti-totalitären Befreiungskampf von OUN und UPA nahm seit dem eine bemerkenswerte Entwicklung. Von einer Erzählung in der Westukraine und der kanadischen Exilgemeinde wurde er durch Viktor Juschtschenko zum offiziell staatlich-legitimierten Narrativ. Das von ihm gegründete Institut Nationalen Gedenkens schreibt diese Geschichte bis heute fort. Inzwischen besitzt der Mythos sogar Gesetzeskraft. Seit Frühling 2015 ist das Andenken an die "Freiheitskämpfer" in der Ukraine per Parlamentsbeschluss gesichert, Zweifel an der Legitimität des "Befreiungskampfes" sind nun eine Straftat.14
Was sich in dieser Hinsicht im Geschichtsunterricht an ukrainischen Schulen und in entsprechenden Lehrbüchern tun wird, bleibt fürs erste abzuwarten. Jedoch wurde die UPA auch in bisherigen Schulbüchern schon recht vorteilhaft als "dritte militärische Kraft" dargestellt. Dabei wird ihr Kampf gegen sowjetische und polnische Partisanen im Zweiten Weltkrieg aber nur nebenbei erwähnt. Vor allem wird der Kampf gegen die Nazis herausgehoben.15
Der Mythos vom Befreiungskampf der OUN und UPA ist ein klassischer Heldenmythos mit Lichtgestalten, deren Schattenseiten glattgebügelt oder glatt geleugnet werden. In der Ukraine gibt es noch viele weitere Heldenkulte mit jeder Menge Pathos, wie etwa eine Analyse von Schulaufsätzen zeigte.16
Von Kosakenanführern bis zu den großen ukrainischen Literaten, wird Schülern im Unterricht eine oft unkritische, teils schon kultische Verehrung historischer Lichtgestalten beigebracht. Die Leninbilder in Schulen etwa wurden nach 1991 oft nur durch Bilder des Nationaldichters Taras Shevchenko ersetzt. Die Sinnhaftigkeit von Heldenmythen selbst wurde dabei jedoch nicht infrage gestellt. Dies liege daran, dass Heldenkulte vor allem in politischen Systemen mit Legitimations- bzw. Identifikationsdefiziten gut keimen, erläutert die Politologin Ludmila Lutz Auras.17