Bildungsministerium will den Euromaidan als neuesten Nationalmythos etablieren
Seite 3: Opfermythos Holodomor
Neben Heldenmythen gibt es in der Ukraine auch einen zentralen Opfermythos: den Holodomor. Die politisch herbeigeführte Hungersnot in den Jahren 1932 und 1933 ist eines der großen stalinistischen Verbrechen. Zwischen 2,5 und 3,9 Millionen Menschen starben dabei in der Zentral- und Ostukraine.18 Bis zu sieben Millionen Menschen verhungerten damals in der gesamten Sowjetunion.
Seit 1929 erzwang Stalin die Eingliederung der sowjetischen Bauernschaft in landwirtschaftliche Großbetriebe unter Staatskontrolle (Kollektivierung). Dies und vorgeschriebene Getreideablieferungen erzeugten besonders in der Ukraine Widerstand. Mit Gewalt wurden immer mehr ukrainische Bauern und ihr Land kollektiviert, die Getreideablieferungsquoten erhöht und weitere Lebensmittel beschlagnahmt. Folgen waren Hunger, Seuchen und Missernten. Zudem machten die Sowjetbehörden die Grenzen der betroffenen Regionen dicht - die Hungernden konnten nicht fliehen.
In den Hungerjahren 1932/33 starben ganze Dörfer aus, Landstriche wurden entvölkert. Die Sowjetführung unterband gezielt Hilfsleistungen und verheimlichte das Verbrechen. Der Hunger sei eine politische Waffe zur Bestrafung der bäuerlichen Bevölkerung für den Widerstand gegen die Kollektivierung und ein Schlag gegen den ukrainischen Nationalismus gewesen, schreibt der Historiker Gerhard Simon. Bis weit in die 1980er Jahre wurde die Hungersnot in der Sowjetunion verschwiegen.
Hunger-Genozid als ukrainischer Holocaust
Erst in der Phase der Perestroika brachte die ukrainische Nationalbewegung das Verbrechen wieder ins Gespräch. Auch die ukrainische Diaspora in Nordamerika befasste sich seit den frühen 1980ern damit. Hier begann schließlich die Mythenproduktion. Die Hungersnot wurde als "Ukrainischer Holocaust" bezeichnet. Diaspora-Aktivisten gaben dazu Opferzahlen von mindestens sieben Millionen, teils von weit mehr als zehn Millionen verhungerten Ukrainern an. Es ging darum die Hungersnot als gezielten Genozid sowjetischer Russen am ukrainischen Volk darzustellen. Ein Verbrechen, das in Umfang und Motiv auf einer Stufe mit dem Holocaust der Nazis stehen sollte.
Mit der Unabhängigkeit der Ukraine begann der "Re-Export" dieses Mythos' aus der Diaspora, wie der schwedische Historiker Per Anders Rudling es bezeichnet. Im Jahr 2003 verurteilte das ukrainische Parlament auf Initiative Präsident Kutschmas den Holodomor mit knapper Mehrheit erstmals als Völkermord an den Ukrainern.
Besonders Kutschmas Amtsnachfolger Juschtschenko versuchte das historische Verbrechen politisch zu nutzen. Zahlreiche Gedenkorte wurden eingerichtet, Aussagen von Zeitzeugen gesammelt, der Holodomor wurde zum Pflichtthema im Geschichtsunterricht. Ziele waren Distanz zu Stalinismus und Sowjetvergangenheit herzustellen sowie die gemeinsame Nationalidentifikation von Ukrainern in Ost und West voranzutreiben.19 So wurde das Narrativ vom Völkermord unter Juschtschenko Staatsräson und aggressiv als solches beworben, schreibt Rudling. 2006 schließlich wurde der Holodomor gesetzlich als Genozid festgeschrieben, dessen Leugnung damit zum Straftatbestand wurde.
Heute ist der Holodomor mehrheitlich fest im ukrainischen Gedächtnis als Völkermord verankert.20 Zudem wird der "Hunger-Genozid" von Offiziellen immer wieder mit dem Holocaust gleichgesetzt. Tenor: Der Holocaust ist mitnichten einzigartig. Die Ukrainer sind ein Opfervolk. Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann spricht dabei von einer "mythisch überhöhten Opferrolle" der Ukrainer.21
Ukrainische Opfer, anonyme Täter?
Der Opfermythos vom Genozid verliert jedoch an argumentativem Rückhalt, wenn man bedenkt, wer die ausführenden Täter bei der Hungerkatastrophe waren. Außer Stalin und wenigen prominenten Führungskadern werden quasi nie Schuldige benannt, gibt der Berliner Osteuropahistoriker Robert Kindler zu bedenken. Der kleine sowjetische Führungszirkel allein konnte aber nicht Millionen Menschen berauben und töten.
Abertausende Befehlsgeber, Ausführende und Unterstützer vor Ort waren nötig, um die Kollektivierung durchzusetzen und Unmengen Getreide mit Gewalt zu beschlagnahmen. Es waren auch und gerade Ukrainer, die anderen Ukrainern Leid zufügten, schreibt Kindler. Doch darüber wird in der Ukraine nicht gesprochen. Das Konzept des Völkermordes würde so nämlich ins Wanken geraten. "Die Verantwortung für den Hunger muss externalisiert werden."
Zudem wurden nicht nur Ukrainer Opfer der Hungersnot. Millionen weitere Einwohner der Sowjetunion starben hierbei in den traditionellen Getreideüberschussgebieten des Landes - im Nordkaukasus oder an der Wolga. Kasachstan hat verhältnismäßig sogar die höchsten Opferzahlen zu beklagen gehabt.22 Die meisten russischen Historiker sehen das Verbrechen deshalb nicht als Genozid an den Ukrainern. Unter westlichen Historikern ist die Deutung umstritten. Der Osteuropahistoriker Gerhard Simon erkennt Maßnahmen, "die den Tatbestand des Genozids erfüllen", während Ukraine-Experten wie Andreas Kappeler die Völkermord-These bislang als "nicht überzeugend nachgewiesen" sehen.23
Als Viktor Janukowitsch 2010 Präsident wurde, sprach auch er sich gegen die Deutung als Genozid aus. Bildungsminister Dmytro Tabatschnyk erklärte kurz darauf, diese Auslegung des Holodomor aus den Lehrbüchern zu streichen. Dies geschah auch und so wird der Holodomor selbst noch unter der jetzigen "Maidan"-Regierung in Lehrbüchern als zwar billigend in Kauf genommene, aber nicht gezielt herbeigeführte Folge der radikalen Kollektivierungspolitik unter Stalin gelehrt.24
Mit Blick auf Äußerungen der aktuellen Machthaber zum Holodomor ist jedoch anzunehmen, dass sich diese Interpretation in Schulbüchern bald wieder in Richtung Völkermord ändern wird.25 Umfragen zufolge betrachtet die übergroße Mehrheit der Ukrainer den Holodomor auch jetzt schon als Genozid.