Bildungsministerium will den Euromaidan als neuesten Nationalmythos etablieren

Seite 5: Euromaidan als neuester Mythos

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Mit einer breit angelegten PR- und Medienkampagne haben Beteiligte und Profiteure des Euromaidan durchaus erfolgreich den Aufstand von November 2013 bis Februar 2014 national und international als Freiheitskampf des ukrainischen Volkes gegen (pro-)russische Unterdrücker vermarktet. Nun soll dieser Mythos auch in ukrainische Schulbücher Eingang finden. Im April 2015 gab das Bildungsministerium ein Dokument heraus, das so etwas wie das neueste Kapitel für Lehrbücher der Ukrainischen Geschichte darstellt.27 Es wird Lehrern zur Verwendung empfohlen.

Das Papier mit dem Titel "Revolution der Würde 2013-2014 und die Aggression Russlands gegen die Ukraine" behandelt ein wenig Vorgeschichte und dann chronologisch die Ereignisse vom November 2013 bis zur Parlamentswahl knapp ein Jahr später. Schnell wird dabei jedoch deutlich, dass es sich nicht um ein informatives zeitnahes Lehrbuchkapitel zu den Geschehnissen, sondern um eine extrem einseitige und politisch motivierte Interpretation anonymer Autoren handelt.

Die Bildauswahl ist beispielsweise äußerst fragwürdig, da sie klar darauf angelegt ist, je nach gezeigtem Akteur positive oder negative Emotionen zu wecken. Jeder, der sich in irgendeiner Form als "pro Maidan" einordnen lässt, wird lächelnd, freundlich, vorteilhaft dargestellt. Gegner des Maidan werden ausschließlich als bedrohlich, hinterhältig und abstoßend präsentiert. Bilder suggestiv einzusetzen, sollte nach allgemeinem Verständnis aber nicht das Prinzip von Lehrbüchern sein.

Propaganda fürs Schulbuch: Im neuesten Lehrbuch-Kapitel des Bildungsministeriums zur "Revolution der Würde" existieren ukrainische Separatisten nur als martialisch auftretende "pro-russische Terroristen", während ukrainische Nationalgardisten als lächelnde Kinderbefreier posieren. Auffällig ist, wie häufig in dem Dokument Kinder für "die Ukraine" instrumentalisiert werden.

Wie die Bilder so ist auch der Text des Dokuments darauf angelegt, den Mythos vom (pro-)russischen Unterdrücker und dem ukrainischen Opfervolk zu bedienen. So heißt es an einer Stelle, "die Ukrainer zahlen mit ihrem Blut für die europäischen Freiheitswerte". Zudem enthält das Papier auffällige inhaltliche Auslassungen und einige manipulative Formulierungen. Im Folgenden sollen kurz einige Beispiele dargestellt werden. Das Dokument beginnt mit einem Rückblick:

Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010 stimmte weniger als die Hälfte von denen, die zu den Urnen kamen, für die Kandidatur von Viktor Janukowitsch. Dennoch begann Janukowitsch sofort, die Macht an sich zu reißen.

Zwar hatte Janukowitsch bei der Stichwahl im Februar 2010 gegen Julia Timoschenko tatsächlich "nur" knapp 49 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten. Doch Timoschenko kam nur auf 45,5 Prozent. Die restlichen Wähler hatten "gegen alle" gestimmt (4,3 Prozent) oder ungültige Wahlzettel abgegeben (1,2 Prozent). Also ein einwandfreier Wahlsieg Janukowitschs bei einer rechtlich sauberen Wahl, die sämtliche internationale Organisationen als fair bezeichneten. Die OSZE etwa sprach von einer "eindrucksvollen Darstellung demokratischer Wahlen". Die manipulative Erzählung vom Wahlsieg als ein "Macht an sich reißen" verstößt gegen den unparteiischen Bildungsauftrag des Ministeriums.

Zollunion führt zu Völkermord

Auf den beiden folgenden Seiten des neuen Lehrbuchkapitels heißt es, die mögliche Mitgliedschaft in der russischen Zollunion sei eine Bedrohung für die Ukraine gewesen. Sie hätte die Ukraine ausgeplündert und eine "normale Entwicklung" des Landes verhindert. Zudem sei die Ukraine unter Janukowitsch leicht zu erobern gewesen: Die Köpfe sämtlicher Sicherheitsbehörden wären russische Agenten gewesen. All diese Behauptungen werden in dem Papier nicht belegt, was deutlich dem wissenschaftlichen Selbstanspruch des Dokuments widerspricht.

Zur 2013 noch möglichen Mitgliedschaft der Ukraine in der Zollunion mit Russland und anderen früheren Sowjetrepubliken ist dann zu lesen:

Viele Menschen erkannten, dass die Eroberung der Ukraine durch Russland, physische Zerstörung und Völkermord ["Genozid"] am ukrainischen Volk wie im zwanzigsten Jahrhundert bedeuten könnte.

Dass auf eine Mitgliedschaft in der Zollunion ein Völkermord (!) von Russen an Ukrainern gefolgt wäre, muss selbst für russlandfeindliche Menschen äußerst befremdlich klingen und braucht hier nicht weiter kommentiert zu werden. Auffällig ist aber, wie die Autoren versuchen, historische Parallelen zu Stalinismus und Holodomor zu ziehen und Geschichte somit für die Köpfe Jugendlicher politisch zu instrumentalisieren.

Keine Straftaten auf dem Maidan

Während das Dokument immer wieder äußerst brutale Methoden der Polizei gegen Demonstranten beklagt, wird der Maidan demgegenüber als "Zentrum des friedlichen Widerstands" beschrieben (Seite 5).28 Über Monate hinweg hätten Demonstranten keine Straftaten auf dem Maidan begangen, obwohl dort Millionen Menschen gewesen wären, berichtet das Dokument. Auch diese Aussage hat wenig mit der Realität zu tun.

Körperverletzung und Gewalt gab es schon in den ersten Tagen als rechtsradikale Maidananhänger linke Demonstranten vom Platz prügelten. Seit dem 30. November gab es ein gerichtliches Demonstrationsverbot auf dem Maidan, das die Protestierenden selbstverständlich missachteten. Am 1. Dezember und den folgenden Wochen besetzten sie mit Gewalt zahlreiche öffentliche Gebäude im Kiewer Stadtzentrum und verbarrikadierten öffentliche Plätze und Straßen.29 "In welcher europäischen Hauptstadt wäre so etwas möglich gewesen, (…) ohne dass der Ausnahmezustand ausgerufen würde?", fragt denn auch der Osteuropakorrespondent Ulrich Heyden in seinem Buch zum Ukraine-Konflikt.30 Das staatliche Gewaltmonopol setzten die Demonstranten völlig außer Kraft. Sie bildeten patrouillierende Schlägertrupps ("Bürgerwehren") und verhafteten bei Gelegenheit Sicherheitskräfte sowie Zivilisten, die sie der Gegnerschaft verdächtigten. Überhaupt leisteten sich Maidankämpfer immer wieder schwere Straßenschlachten mit der Polizei. Sie setzten dabei über Tage hinweg für jeden sichtbar Molotowcocktails und weitere Waffen ein. Allein mit Schusswaffen wurden in Kiew während des Maidan mehr als 200 Polizisten verletzt und 17 getötet. Zudem ist der Anteil von Maidankämpfern und Maidanverantwortlichen am größten Verbrechen dieser Phase, dem Mord an rund 50 Menschen durch Heckenschützen am 20. Februar 2014 bis heute nicht geklärt.31

All diese Straftaten waren für jeden Beobachter sichtbar.32 Trotzdem behauptet das Papier des Bildungsministeriums, alle Maidan-Demonstranten hätten sich durchgängig gesetzeskonform verhalten. Auf Seite 10 heißt es sogar, die ganze Welt sei erstaunt vom "außerordentlich friedlichen Protest" der Ukrainer gewesen. Das Dokument leugnet damit ganz bewusst und offensiv die aufgezählten und weitere Straftaten - zur Erinnerung: Es geht hier um Informationsmaterial mit dem Kinder und Jugendliche unterrichtet werden sollen.

Gut gegen Böse im Lehrbuch

In diesem Stil ist das gesamte Dokument gehalten. Seine anonymen Autoren verschweigen darin im Weiteren die Tatsache, dass Polizisten getötet wurden, die Ablehnung des Kompromissabkommens durch den Maidan, das Rücktritts-Ultimatum an Janukowitsch und die Drohung mit bewaffnetem Sturm des Präsidentensitzes durch den Rechten Sektor, die zur Flucht des Präsidenten führte. Auch die in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrige Absetzung Janukowitschs fällt unter den Tisch. Um es kurz zu machen: Alles was einem positiven Mythos vom Maidan widersprechen könnte, kommt in dem neuen Lehrbuchkapitel nicht vor.

"Der Maidan wird in dem Dokument als etwas gesehen, das pro-europäisch, zivilisiert, positiv ist und das sich gegen die Mächte der Finsternis - also Russen - richtet", erläutert Frank Golczewski. "Es wird hier eine dualistische Perspektive aufgestellt: gut gegen böse." Der Rechte Sektor hingegen komme in dem Papier gar nicht vor, kritisiert der Osteuropahistoriker. Es seien eben nicht nur harmlose Demokraten auf dem Maidan gewesen. Das Dokument sei ein Versuch, Geschichte in einer ganz bestimmten Weise zu instrumentalisieren.

Im weiteren Verlauf erklärt das designierte Lehrbuchkapitel: Russland wolle die Ukrainer mit der Krimbesetzung für ihre freiheitliche Revolution bestrafen und demütigen. Im Donbass hätten "pro-russische Terroristen" tausende Menschen gefoltert und ermordet. Dort herrsche nun ein System des Massenterrors. Die Opfer im Gewerkschaftshaus von Odessa hätten sich überdies selbst angezündet. MH-17 sei von Separatisten und russischem Militär abgeschossen worden. Die allermeisten der zahlreichen Vorwürfe und Anschuldigungen werden ohne jeglichen Beleg präsentiert.

Auffällig ist, dass es im ganzen Dokument keine anderen Perspektiven gibt. Unterschiedliche Interpretationen des Maidan oder inhaltliche Positionen der abgesetzten Regierung Asarow werden nicht vorgestellt. Eine Diskussion über Sinn, Hintergründe und Nutzen des Maidan findet in dem Material nicht statt. Die Autoren verletzen mit ihrer einseitigen Parteinahme anerkannte Leitlinien wie das "Überwältigungsverbot" und das Kontroversitätsgebot, wie sie hierzulande etwa im "Beutelsbacher Konsens" für den politisch-historischen Unterricht festgehalten sind.33

"Wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten", schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung dazu.

Auch werden in dem Dokument keine Fragen an Schüler formuliert. Der Grund erscheint klar: Damit soll ausschließlich eine einzige geradezu mythische Interpretation des Maidan und folgender Ereignisse wiederholend eingeübt werden.

Ausschnitt der Realität wird zur Gesamtrealität erklärt

Der Euromaidan hat absolut das Potenzial, um als "Revolution der Würde" zum neuen ukrainischen Nationalmythos zu werden, ist Frank Golczewski überzeugt. Das neue Lehrbuchkapitel zeige, die politischen Maidansieger wollen den Euromaidan mythisch zu einer europäischen Bewegung machen, ohne die eigene Radikalisierung dabei mitzudenken.34

Die ukrainische Regierung befindet sich in einer Propagandaschlacht und die "Freiheitskämpfer" von früher sind ihr dabei genauso dienlich wie die von heute. Die ukrainische und die russische Seite setzten in dieser "Schlacht" übrigens ganz ähnliche Mittel ein, sagt Golczewski.35

Beide Seiten und ihnen verbundene Medien haben dabei jeweils nur den ihnen passenden Ausschnitt der Realität gezeigt - diesen dann aber zur Gesamtrealität erklärt. Diese Form der Desinformation hat bereits großen Schaden angerichtet. Es steht zu befürchten, dass auch Schulunterricht und Lehrbücher diesem Prinzip folgen.