Bis zu 13 Milliarden Jahre zurück in die vergangene Gegenwart

Einmaliger Blick in die Frühzeit des Universums

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Wieder einmal sind US-Astronomen mit der Hubble-Zeitmaschine tief, sehr tief in die Vergangenheit eingetaucht. Bei der Observation nutzte das NASA-Teleskop eine Galaxien-Ansammlung als natürliches Zoom und konnte so einen Blick auf dahinter liegende Sternensysteme werfen. Mit Hilfe des so genannten Gravitationslinseneffekts, einer Präzisionskamera und einer Belichtungszeit von 13 Stunden schoss Hubble ein Foto, auf dem nach Einschätzung der Forscher sogar mehr als 13 Milliarden Lichtjahre alte Strukturen zu sehen sind. So tief hat bislang noch kein Fernrohr ins All geschaut.

Bild: NASA/Hubble

Die Historiker des Universums, sprich die Kosmologen, Astrophysiker und Astronomen unserer Tage, zählen zu einer beneidenswerten, privilegierten Spezies. Denn während ihre Kollegen von der klassischen Geschichtswissenschaft bei der Analyse irdischer Primärquellen bestenfalls über den Umweg des Studiums des Originaldokuments und mittels eigener Suggestivkraft sowie Abstraktionsfähigkeit eine fiktive, gedankliche Reise in die Vergangenheit unternehmen können, verhält es sich bei den Sternforschern indes völlig anders. Visieren diese nämlich mit ihren Fernrohren weit entfernte Sterne an, tauchen sie mit jedem Blick durch das Okular tief und direkt in die Vergangenheit des Kosmos ein und begegnen dabei Sternen, Galaxien und Quasaren dergestalt, wie sie einmal vor langer Zeit ausgesehen haben, als das Licht, das sich uns jetzt offenbart, die fremden Welten damals gerade verlassen hatte. So gesehen unternehmen sie reale Zeitreisen der optischen Art. Was sie sehen ist nichts anderes als vergangene Gegenwart des Universums.

2,2 Milliarden Jahre entfernte und 2 Millionen Lichtjahre große Gravitationslinse

Eine jener Zeitmaschinen, mit denen Astronomen schon mehrfach erfolgreich in die Vergangenheit geschaut haben, ist das legendäre mittlerweile schon seit knapp 13 Jahren im Orbit auf Dienstreise befindliche Weltraumobservatorium Hubble, das um Superlative selten verlegen ist. Unlängst hat das Teleskop wieder einmal einen Rekord aufgestellt, indem es den natürlichen Gravitationslinseneffekt auf bislang effektivste Weise nutzte.

Der von Albert Einstein vorhergesagte, aber selten auftretende so genannte Microlensing-Effekt beruht auf der Mikrogravitationslinsenwirkung: Bewegt sich ein Stern, der sich in der Sichtlinie der Erde und einem weit entfernten Hintergrundstern befindet, an diesem vorbei, so wird das Licht des Hintergrundsterns in charakteristischer Weise durch den Gravitationslinseneffekt verstärkt. Dass dieser Effekt nicht nur bei Sternen, sondern auch bei Galaxien und Galaxien-Clustern zum Tragen kommt, bewies jetzt das Hubble-Teleskop, das die Schwerkraft des 2,2 Milliarden Lichtjahre entfernten massereichen Galaxiehaufen Abell 1689, der mit zu den größten im Universum zählt und Tausend Galaxien miteinander vereinigt, auf höchst wirksame Weise nutzte. Mit Hilfe einer im vergangenen Jahr installierten Ausrüstung konnte das Weltraumobservatorium Abell 1689 als "natürliches Zoom" benutzen.

Dass die Astronomen auf der mit der Hubble-Kamera Advanced Camera for Surveys insgesamt 13 Stunden lang belichteten Aufnahme sogar Strukturen und Galaxien ausmachen konnten, die nur halb so hell sind wie die schwächsten Sternsysteme auf den so genannten Hubble Deep Fields, den bisherigen Rekordaufnahmen des Weltraumteleskops, ist auf dem unglaublichen Gravitationslinseneffekt zurückzuführen, den die Galaxieansammlung Abell 1689 generierte. Durch die Schwerkraft des im Vordergrund liegenden Galaxienhaufens wurde eine sage und schreibe zwei Millionen Lichtjahre große künstlich erzeugte "Linse" geschaffen, dank der die bis zu 13 Milliarden Lichtjahren von uns entfernten Galaxien und Strukturen ins Blickfeld rücken konnten.

Ominöse Dunkle Materie

Dass die ferne Galaxien zu lang gestreckten Bögen verzerrt, vergrößert und in ihrer Helligkeit verstärkt werden, verursacht nicht nur die Gravitation der Abell 1689-Galaxien (besser gesagt die darin befindlichen Billionen Sterne); auch die ominöse im Raum eingebettete unsichtbare "dunkle Materie", die um und in dem Abell-Galaxiencluster liegt, lenkt das Licht hinter dem Haufen liegender, weiter entfernter Objekte ab.

Die Hubble-Aufnahmen zeigen zehn Mal so viele Sichelbögen wie mit erdgebundenen Teleskopen zu erkennen wären. Einige NASA-Wissenschaftler sprachen von einem dramatischen neuen Einblick in den Kosmos. Mit der detaillierten Analyse der Aufnahmen können Astronomen die Verteilung der Dunklen Materie in dem Galaxienhaufen Abell 1689 kartieren. Aus der detaillierten Analyse des Bildes hoffen die Astronomen noch weitere Informationen über die Verteilung und Beschaffenheit der dunklen Materie in dem Galaxienhaufen zu gewinnen. Darüber hinaus könnte das im Juni 2002 aufgenommene Hubble-Bild zur Untersuchung der Stern- und Galaxienbildung im Universum während der vergangenen 13 Milliarden Jahre dienen. Laut NASA und dem Institut des Weltraumteleskops Hubble in Baltimore im US-Bundesstaat Maryland bestätigt das neue Bild auch die Relativitätstheorie von Albert Einstein.

Narciso Benitez, der das Astro-Foto mitsamt Ausschnittvergrößerungen mit seinem Kollegen Holland Ford von der Johns Hopkins University während des Kongress (5 bis 9. Januar 2003) der Amerikanischen Astronomischen Gesellschaft (AAS) in Seattle (US-Staat Washington) vorstellte, charakterisierte die Aussagekraft des Fotos wie folgt: "This is probably telling us something about galaxy evolution." Gegenüber dem US-Online-Magazin Space.com zog Holland Ford ein positives Fazit:

We're using this fabulous instrument on Hubble in combination with the fabulous instrument that Nature has provided, these clusters of galaxies are like cosmic telescopes. What we are finding are galaxies that are less than two billion years old.

Hubble Deep Fields - Eine Erfolgsstory

Die Erfolgsstory der Hubble Deep Fields hat der damalige Direktor des Space Telescope Science Instituts (STScI) im Jahr 1993 eingeleitet, als er mit einer bis dahin zwar schon angedachten, aber in der Praxis noch nicht umgesetzten Idee vorstellig wurde. Warum soll man nicht das Weltraumteleskop für mehrere Stunden auf einen eng begrenzten Punkt im All fixieren und abwarten, was dabei die empfindlichen Hubble-Kameras zutage fördern? Gedacht - getan. Er nutzte die ihm als Direktor zustehende kostbare Beobachtungszeit, um einen scheinbar dunklen Fleck am Nordhimmel für viele Stunden zu beobachten. Das Resultat sprach für sich und revolutionierte die Astronomie. Erstmals gelang es, in leer erscheinenden Regionen des Weltalls eine Vielzahl von Galaxien zum Vorschein zu bringen, die zu einer Zeit entstanden waren, als das Universum gerade mal rund ein Zehntel seines jetzigen Alters auf dem Buckel hatte. Seitdem sind Deep Field-Aufnahmen en vogue.

Wie klein der Himmelsausschnitt übrigens ist, auf dem sich das Hubble-Teleskop bei einer Deep Field-Observation fokussierte und wie galaxienreich der scheinbare kleine anvisierte Punkt in Wahrheit ist, zeigt eine sehenswerte kurze Video-Simulation der NASA.

Wie der Gravitationslinseneffekt bei Abell 1689 ausgesehen haben könnte; hierzu eine interessante Videosimulation