Blockade von Leningrad: "Der Erinnerungsarbeit, die in die Zukunft weist, verpflichtet"
Seite 2: Kriegsverbrechen? Genozid?
Laut Einschätzung der Historikerin Susanne Schattenberg ist unter Historikern nicht mehr umstritten, dass die Blockade von Leningrad ein Genozid ist.
Beispielsweise stellen der US-amerikanische Historiker Richard Bidlack und sein russischer Kollege Nikita Lomagin fest:
"Nach dem Holocaust war der die Blockade Leningrads der größte Akt eines Genozids in Europa während des Zweiten Weltkrieges."
Auch der deutsche Historiker Christian Hartmann spricht explizit von einem "Genozid".
Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch schreibt unter § 6.1:
Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören,
1. ein Mitglied der Gruppe tötet,
2. einem Mitglied der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art, zufügt,
3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen...
So die Definition von Völkermord bzw. Genozid.
Auf eine Kleine Anfrage, die oben bereits erwähnt wurde, antwortete die Bundesregierung:
Die Blockade von Leningrad ist eines der vielen schrecklichen deutschen Kriegsverbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion, an die die Erinnerung weiterhin wachgehalten werden muss.
Auch als Antwort auf eine Anfrage von Telepolis ordnet das Auswärtige Amt die Blockade von Leningrad als ein Kriegsverbrechen ein. Die Nachfrage, warum es hingegen nicht als Genozid angesehen werde, blieb unbeantwortet.
Auf Anfrage von Telepolis äußerte sich der Historiker Jörg Ganzenmüller:
Der Deutschen Wehrmacht ging es darum, mit der Belagerung die Einwohner Leningrads vollständig verhungern zu lassen und anschließend die Stadt "dem Erdboden gleichzumachen" – wie Hitler mehrfach verkündete.
Wenn man unter Genozid die Zerstörung der Lebensgrundlagen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe versteht, war die Belagerung ein Genozid an den Leningradern. Wenn man unter Genozid die Vernichtung ganzer Nationen versteht, passt der Begriff nicht.
Mir scheint es aber weniger wichtig zu sein, ob nun der Genozidbegriff in diesem Fall angewendet werden kann oder nicht. Wichtig ist, dass die Belagerung Leningrads als Bestandteil der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik im östlichen Europa verstanden wird.