Böller für alle, für keinen oder nur für Reiche – eine Law-and-Order-Debatte
Das Winterlochthema ist aufgebauscht, der Hintergrund – auch – rassistisch. Warum es dennoch falsch ist, Böller zu romantisieren. Ein Kommentar.
Das Sommerloch war bisher der Inbegriff von medial aufgebauschten Problemen in der nachrichtenarmen Zeit. Das Symbol für das Sommerlochthema 2023 könnte die Jagd nach einer frei herumlaufenden Löwin sein, die sich dann als Wildschwein entpuppte.
Das ist die zeitgenössische Form des Ungeheuers von Loch Ness. Das wurde auch immer in der nachrichtenarmen Zeit gesichtet und regte die Fantasie an. Mittlerweile haben wir auch zum Jahresende auch regelmäßig ein Winterlochthema.
Da werden Probleme gesucht und aufgebauscht. Doch dabei handelt es sich um ein verwechseltes Tier, was ja nur für viel Spott sorgte. Das aufgebauschte Winterlochthema hingegen hat sehr wohl politische Implikationen.
Brot statt Böller oder Brot und Böller?
Es fing mit der Böllerdebatte an. Schon seit Jahren fordern kirchliche Gruppen unter dem Motto "Brot statt Böller" einen ruhigen Jahreswechsel, und begründeten das mit mehr Achtsamkeit gegenüber Umwelt, Menschen und Tieren. Widerspruch kam regelmäßig von der NGO Aktion 3. Welt Saar: Die Aversion gegen Silvesterböller sei lustfeindlich.
"Ich lehne den Aufruf ab, das Silvesterfeuerwerk zu verbieten, weil er an das schlechte Gewissen appelliert und bin für ‚Brot UND Böller‘", so Sascha Zenk vom Vorstand der Aktion 3. Welt Saar e.V.
Feiern könne keine Sünde sein und zum Wesen des Menschen gehöre in allen Kulturen der Rausch, die Verausgabung, für manche auch die Freude am Feuerwerk. Auch, wenn es in der Silvesternacht stellenweise zu "Entgleisungen" komme, rechtfertige dies kein pauschales Verbot des Feuerwerks. Dann müsste auch das Münchener Oktoberfest verboten werden.
Vorwurf der Doppelmoral
Zenk wirft Böllergegnern eine Doppelmoral vor: "Die Kritik am Feuerwerk setzt erst dann ein, wenn ‚die breite Masse‘ an Silvester Raketen zündet", moniert Zenk.
Nicht kritisiert würden Feuerwerke der Besserbetuchten, beispielsweise nach Klassik-Open-Air-Konzerten oder das Feuerwerk bei der offiziellen Feier am Vorabend des Jahrestages der Französischen Revolution in Saarbrücken.
Dort und bei gestalteten Feuerwerken wie "Rhein in Flammen" und der Heidelberger Schlossbeleuchtung mit Feuerwerk werde kein Verbot oder "Brot statt Böller" gefordert.
Profi-Feuerwerke und betrunkene Laien in "besseren" Vierteln
Nun sind das zwar Profi-Feuerwerke – und es darf erwartet werden, dass die Pyrotechniker einigermaßen nüchtern sind. Insofern dürfte zumindest die Verletzungsgefahr für umstehende Menschen geringer sein als bei durchschnittlichen westlichen Böllerfans ohne entsprechende Ausbildung, die an Silvester vor Mitternacht oft schon mehrere Gläser getrunken haben.
Andere Kritikpunkte – wie "Brot statt Böller" oder die Feinstaubbelastung für Mensch und Umwelt – treffen aber auch hier zu. Und in "besseren" Gegenden werden auch die Böllerwürfe angetrunkener Laien seltener problematisiert.
Genau diese Doppelstandards kann man auch in der Debatte über das Böllern in Berlin feststellen, die sich in den letzten Jahren zu einer Debatte über die angebliche Silvesterrandale am Jahresende erweitert hat.
Böllerverbot in proletarischen Kiezen
Man könnte fast denken, dass sie die jahrelange Debatte über die Randale zum 1. Mai in Berlin-Kreuzberg ersetzt. Denn die findet in den letzten Jahren praktisch gar nicht mehr statt, sehr wohl aber noch große politische Demonstrationen.
Tatsächlich haben vor allem Teile der Berliner Autonomen in den Auseinandersetzungen zum Jahresende die Wut von Jugendlichen und Unterklassen für ihre tägliche Entrechtung entdecken wollen. Sie können dabei auf ähnliche Phänomene in den Nachbarländern verweisen.
In Frankreich hatten Auseinandersetzungen zum Jahresende immer auch mit Wut über Polizeigewalt und staatlicher Repression zu tun. Aber es gibt auch von linken Gruppen Warnungen, die Silvester-Auseinandersetzungen und exzessives Böllerwerfen durch Betrunkene nicht zu romantisieren.
Die Macker-Komponente und der autoritäre Staat
Sie verweisen auf patriarchale Gewalt als Teil dieser Auseinandersetzungen, die in der übergroßen Mehrheit von jungen Männern getragen werden. Mit der Verschärfung des Nahostkonflikts nach den Pogromen der Hamas vom 7. Oktober wird nun befürchtet, dass auch antisemitische Inhalte in diese Jahresendauseinandersetzungen einfließen könnten.
Doch es ist auch zu beobachten, dass hier im Vorfeld ein Popanz aufgebaut wird: denn über die angeblichen Silvesterkrawalle reden vor allem konservative Medien, Politiker und die Polizei. Es ist kein Zufall, dass die beiden Berliner Law-and-Order-Politiker Kai Wegner (CDU) und Iris Spranger (SPD) sich seit Tagen als Manager der Ordnung an Silvester besonders zu profilieren versuchen.
Wegner ist sich sehr bewusst, dass er heute nicht Regierender Bürgermeister wäre, hätte es nicht die aufgebauschte Debatte um die Silvester-Auseinandersetzungen von 2022 auf 2023 gegeben, die bald eine rassistische Schlagseite bekam. Da wollten sowohl die AfD als auch die Hauptstadt-CDU sofort nach den Familiennamen der am Silvesterabend festgenommenen Menschen fragen.
Festgenommene sind nicht automatisch Täter
Dabei fiel unter dem Tisch, dass eine Festnahme noch keine Verurteilung wegen einer Straftat ist; und dass Menschen, die nicht Wegner oder Spranger heißen, durchaus deutsche Staatsbürger sein können.
Wie rassistisch die Debatte auch jetzt wieder aufgeladen ist, zeigt sich an den bekannten Böllerverbotszonen in Berlin. Dazu gehört natürlich die Sonnenallee in Berlin-Neukölln, die längst zum Hassobjekt derer geworden ist, die dort ihr imaginiertes Deutschlandbild sicher nicht wiederfinden.
Auch der Kiez um die Friedel- und die Reuterstrßae in Nordneukölln sowie die Steinmetzstraße in Schöneberg sind Stadtteile, in denen viele eben nicht Müller oder Meier heißten.
Böllerverbotszonen sind auch eine Klassenfrage
Nur die Böllerverbotszone rund um den Berliner Alexanderplatz kann als ein Areal gelten, auf dem sich Menschengruppen unterschiedlicher Herkunft und Nation eher mit touristischem Hintergrund treffen. Zudem sind die Böllerverbotszonen in ärmeren, proletarischen Kiezen eingerichtet. Hier kann man die Kritik von Sascha Zenk vom Vorstand der Aktion 3. Welt Saar vollständig übernehmen.
Während in den Vierteln der Reichen geböllert werden kann und das scheinbar kein Problem für Mensch und Umwelt ist – ein geringeres ist es vielleicht nur deshalb, weil die Menschen dort weniger beengt wohnen und die Umgebung weitläufiger ist – stehen die proletarischen, oft migrantisch gelesenen Kieze an Silvester unter besonderem staatlichen Druck.
Denn die Böllerverbote müssen durchgesetzt werden – und genau das hat der CDU-Bürgermeister auch schon angekündigt. Dann tritt die Polizei mit einem Großaufgebot auch als repressive Staatsmacht auf, die dann eben die Mittel anwendet, die sie für nötig erachtet, um das Böllerverbot durchzusetzen.
Nicht wundern, wenn die AfD von der Debatte profitiert
Wenn man sich die Forschungen der kritischen Polizeiwissenschaft anschaut, agiert die Polizei ganz in historischer Tradition. "Polizieren" heißt die oft gewaltsame Durchsetzung von staatlicher Ordnungspolitik.
So trat die Polizei historisch vor allem in proletarischen und migrantischen Kiezen als Disziplinierungs- und Unterdrückungsinstanz auf und wurde auch von vielen der polizierten Menschen als solche empfunden.
So dient auch die aktuelle Winterlochdebatte in Berlin vor allem dazu, rechte Law-and-Order-Vorstellungen populär zu machen. Daran beteiligen sich auch Politiker und Medien, die sich dann über die Umfrageerfolge der AfD verwundert geben.