Böse Filme zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz

Seite 4: Frauen müssen Opfer sein

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Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, wie schlüssig die Argumentation der BPjM ist (oder eben nicht). Mich interessiert der Fehler, der dem 3er-Gremium unterlaufen ist, obwohl es immer ganz genau hinsieht, wenn "gemetzelt" wird. Die "eigentlichen Täter" sind sechs Personen, alle Mitglieder einer mörderischen Familie. Zwei davon werden am Schluss von Yasmin getötet, weil sie überleben will (ein "Freiheitskampf" ist etwas anderes und passt auch nicht wirklich zur These von der Selbstjustiz, die man für eine Indizierung braucht). Die restlichen vier Täter wurden vorher von anderen Familienangehörigen umgebracht.

Sechs statt zwei, das ist doch eine ziemlich hohe Fehlerquote. Woher kommt das? Meine Vermutung: Yasmin werden in der IE ein paar Leichen extra zugeschoben, weil sie auf das 3er-Gremium so bedrohlich wirkte - nicht, weil sie Selbstjustiz übt oder "zum Freiheitskampf ansetzt", sondern weil sie eine Frau ist und doch kein passives Opfer. Wenn man Freiheitskampf und Selbstjustiz weglässt, steht genau das im Text, mit dem die BPjM die Indizierung begründet: zuerst ist sie Opfer, aber am Schluss ist sie auch Täterin. Das ist scheinbar so beunruhigend, dass aus zwei Toten sechs wurden.

Martyrs

In Martyrs gibt es eine Geheimorganisation von Folterern, die junge Frauen grausam martert, weil sie sich davon Aufschluss über ein mögliches Weiterleben nach dem Tod erhofft. Am Anfang dringt eines der Opfer mit einem Gewehr in das Haus der Täter ein und schießt sie nieder (in dem Fall ist es wirklich Selbstjustiz, aber nicht unbedingt nachahmenswert, weil die Frau mit dem Gewehr ums Leben kommt). Falls der Film demnächst zur Indizierung anstehen sollte, wird das 3er-Gremium wieder die "einschlägigen Kritiken" lesen. Deshalb schon mal vorweg: Viele der "Rezensenten" im Internet behaupten, dass es zwei junge Frauen sind, die sich eingangs rächen. Das ist falsch. Die zweite kommt erst später. Auf die (männlichen?) Rezensenten wirkte die Frau mit dem Gewehr offenbar so bedrohlich, dass sie diese verdoppelt haben.

Martyrs

Genrefilme funktionieren nach bestimmten Regeln. Das Publikum kennt diese Regeln. Es sitzt deshalb - bewusst oder unbewusst - in einer bestimmten Erwartungshaltung im Kino oder vor dem Bildschirm. Wer nach Bedeutung sucht, sollte auf das achten, was von der Regel abweicht. Im Slasher-Film der 1970er werden junge Leute von Irren grausam umgebracht. Überleben darf nur eine junge Frau, das "final girl" (alles nachzulesen, werte BPjM, bei Carol J. Clover). Gelegentlich setzt sich das Final Girl mit einem umgebogenen Kleiderbügel zur Wehr wie Laurie in Halloween, aber meistens rennt sie hilflos durch den Wald wie Sally in The Texas Chain Saw Massacre, verfolgt von einem verrückten Mörder mit Kettensäge, und wenn sie genug Qualen erduldet hat, darf sie entkommen.

Haute tension

In den neuen Horrorfilmen ist das ganz anders. Die jungen Frauen können schießen, oder sie greifen selbst zur Säge wie in Haute tension. Wenn mich nicht alles täuscht, hat das viel damit zu tun, dass die Jugendschützer so allergisch auf diese Filme reagieren. "Auch baut Sarah sich eine Waffe aus einem Messer, das sie in einem Staubsaugerrohr verankert und geht mit kämpferischem Gesichtsausdruck gegen ihre Peinigerin vor", steht in der IE zu A l’intèrieur (Seite 7). In Hitchcocks Dial M for Murder ersticht Grace Kelly den Mann, der sie erwürgen will, mit einer Schere, die sie verzweifelt um sich tastend auf dem Schreibtisch findet. Das ist erlaubt (FSK ab 12). Sarah baut sich aktiv eine Waffe zur Verteidigung. Schlüsselworte sind "geht vor" (statt wegzulaufen, was nichts bringt, wenn frau in einem abgesperrten Zimmer ist) und "kämpferischer Gesichtsausdruck". Aber wer oder was wird durch ein Verbot des Films geschützt? Die Jugend oder doch eher das Patriarchenbild vom anschmiegsamen Mädel, das ängstlich kauernd darauf hofft, dass der Held es retten wird? Nur Helden sind bewaffnet, Frauen aber nicht. (Man beachte, wie kompliziert Fred Zinnemann die Schießerei in High Noon inszenieren muss, damit Grace Kelly an eine Pistole kommen kann.)

A l’intèrieur

In A l’intèrieur ist sogar aus dem Peiniger eine Peinigerin geworden. Jetzt dürfen die Frauen schon die verrückten Mörder sein, und das in Filmen, die von Männern geschrieben und inszeniert wurden. Getötet haben sie früher auch, aber heimtückisch und mit Gift (das sei "typisch weiblich", wurde uns gesagt); jetzt greifen sie zum Messer und klingeln an der Haustür wie Beatrice Dalle in A l’intèrieur. Ich kann daran zunächst nur feststellen, dass sich das alte, patriarchalisch geprägte Frauenbild gründlich verändert hat. Ist das so schlimm? Es geht hier um erfundene Geschichten, nicht um Trainingsfilme für angehende Mörderinnen (von der BPjM wird das gern verwechselt).

Analverkehr mit Pornostars

Mag sein, dass solche Filme "verrohend" wirken, auch wenn das bisher nicht bewiesen ist und es immer nur für die anderen gilt. Ich bin auch dagegen, dass Kinder Frontière(s) oder Haute tension sehen. Dafür haben wir die FSK. Sie kann Filme, die für Kinder nicht geeignet sind, nur für Erwachsene freigeben (bitte möglichst unzensiert wie in anderen zivilisierten Ländern auch). Aber wozu dann noch eine Behörde wie die BPjM, die Sätze schreibt wie diesen aus der IE zu Eden Lake (Seite 8):

Erwachsene, die unbedingt Wert auf die selbstzweckhaften Gewaltdarstellungen legen, können nach der Indizierung auch diese Fassung weiterhin, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten, erwerben.

Theoretisch ist das sicher richtig. Praktisch fangen die Schwierigkeiten schon damit an, dass die meisten Erwachsenen gar nicht wissen, dass die für sie freigegebene Version ("ab 18") gekürzt ist. Im Laden darf die ungeschnittene Fassung nämlich nicht ausliegen, und wenn der Verkäufer dem Kunden sagen würde, dass er unter dem Ladentisch die unzensierte DVD versteckt hat, würde er gegen das Werbeverbot verstoßen. Er darf nur auf ausdrückliche Nachfrage sagen, ob er sie vorrätig hat oder nicht. Höchstwahrscheinlich hat er sie nicht auf Lager, weil so gut wie niemand danach fragt. Der Kunde schleicht sich am besten gleich in den Pornoladen, in dem Jugendliche keinen Zutritt haben. So gehen wir hierzulande mit Filmen um. Ich habe aus Recherchegründen versucht, die indizierte Fassung im Internet zu kaufen (nur deutsche Seiten). Das würde ich hier selbst dann nicht empfehlen, wenn ich es dürfte. Seitdem bekomme ich regelmäßig E-mails, in denen mir ein Spray für den schmerzfreien Analverkehr angeboten wird oder ich gefragt werde, ob ich Pornostar werden möchte. Ich wollte nur einen Film kaufen, weiter nichts.

Natürlich gehört zur Praxis auch, dass sich deutsche Rechteinhaber längst einen Partner in Österreich gesucht oder dort sogar eine Filiale eröffnet haben. Wer über rudimentäre Internet-Kenntnisse verfügt, hat rasch einen österreichischen Anbieter gefunden, bei dem man das, was bei uns indiziert und verboten ist, ungekürzt und deutsch synchronisiert bestellen kann. Aber ist das ein Trost? Sind Verbote und Bevormundungen weniger schlimm, weil man sie umgehen kann? Und wird das auch in Zukunft noch so sein? Kürzlich war in einem Telepolis-Artikel zu lesen, wie schnell sich das ändern kann.

Aber zurück zu diesem Satz aus der IE zu Eden Lake. Ich will weder Pornostar noch kleinlich sein und deshalb nicht bemängeln, dass die BPjM über Erwachsene urteilt, die sie überhaupt nichts angehen. Aber ich bin gegen die Diffamierung Andersdenkender. Auch wenn es sich das 3er-Gremium vielleicht nicht vorstellen kann: Erwachsene, die einen Film in der unzensierten Fassung sehen wollen, sind deshalb nicht automatisch geil auf Gewalt. Durch solche Sätze erfährt man nur etwas über diejenigen, die sie schreiben.

Hereinnahme von Gewaltspitzen

Mich stört an diesen Indizierungstexten der BPjM am meisten, dass die intellektuelle Neugier, die aus ihnen spricht, stark gegen Null tendiert. Ich stelle mir kurz vor, ich wäre so ein Jugendschützer und ehrlich davon überzeugt, dass von Computerspielen und Horrorfilmen eine gefährdende Wirkung ausgeht, die so groß ist, dass diese Medien in geheime, anachronistisch anmutende Verbotslisten eingetragen werden müssen. Müsste ich in diesem Fall nicht ein gesteigertes Interesse daran haben, so viel wie möglich über diese Medien in Erfahrung zu bringen, weil ich die Jugend am besten vor den Gefahren schützen kann, die ich genau kenne? Bei der BPjM ist das ganz anders. Zitat aus der IE zu Frontière(s), Seite 6:

Dieses Unrecht [den Opfern gegenüber] und dessen Ausmaß, wird durch die Hereinnahme von Gewaltspitzen gegenüber der 96minütigen Fassung noch deutlicher, so dass die Gewalt gegen die eigentlichen Aggressoren, auch in dem dargestellten Ausmaß, leichter toleriert werden kann und sogar verdient erscheint.

Das kann schon sein, auch wenn es mir zum Beispiel nicht so ging. Ob das die Seherfahrung des 3er-Gremiums war, oder ob das Gremium dachte, dass die Jugendlichen es so sehen würden, ist unbekannt. Eden Lake hat den Vorteil, dass der Film in Großbritannien sehr gut besprochen wurde, was auch hier bei uns seinen Niederschlag gefunden hat (wer versteht dagegen schon Französisch?). Die BPjM will nicht ausschließen, dass es sich in diesem Fall um Kunst handeln könnte. Indiziert wurde das unzensierte Original trotzdem, denn (IE, Seite 7f):

Während die FSK […] eine Selbstzweckhaftigkeit der Gewalt im Sinne einer jugendgefährdenden Wirkung [der gekürzten Fassung] noch verneinte, enthält die verfahrensgegenständliche Fassung eine detaillierte Ausweitung der Gewaltakte, die die künstlerisch hochwertigen Aspekte der Geschichte nicht mehr tragen.

Auch das kann sein. Nur: In beiden Fällen, bei Frontière(s) wie bei Eden Lake, werden Behauptungen über die Unterschiede zwischen der längeren und der kürzeren Version aufgestellt. Laut IE hat das 3er-Gremium aber jeweils nur die längere und dann indizierte Version gesehen. Trotzdem kennt das Gremium die Unterschiede ganz genau. Die längeren Fassungen enthalten mehr "Gewaltspitzen", damit ist alles gesagt. Was man schon vorher weiß, muss man nicht überprüfen. Wieder wird die Analyse durch Addieren bzw. Subtrahieren ersetzt. Die BPjM verwechselt Filmanalyse mit Mathematik. Die Wirkung von Filmen und deren künstlerischer Wert lassen sich aber nicht mit Hilfe der Grundrechenarten bestimmen. Eine Kulturnation, wie wir es sein wollen, sollte das doch wissen. Hier wird so getan, als wäre die zensierte Fassung eines Films dasselbe wie die unzensierte, nur eben mit etwas weniger Gewalt. Das kann so sein, muss aber nicht. Je besser ein Film, umso weniger stimmt es. Der BPjM, die so tapfer zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit "abwägt", fehlt dafür jegliches Verständnis.