Böse Filme zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz

Seite 3: Mr. Vincent Vega rezensiert

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Die BPjM ist doch noch fündig geworden. Nicht bei der Wissenschaft oder im Feuilleton von Zeitungen und Zeitschriften, sondern im Kommentarteil von Internet-Versandhändlern. Eine seiner 12 Textseiten zu A l’intèrieur füllt das 3er-Gremium mit den "Filmrezensionen" von "blade41", "Mr. Vincent Vega" und "McHolsten". Mit Verlaub: Das ist Realsatire. Solche Kommentare von Internet-Usern sind völlig legitime Meinungsäußerungen, aber Filmrezensionen sind es in aller Regel nicht. Ich will überhaupt nicht ausschließen, dass Mr. Vincent Vega & Co. eine solche Rezension schreiben könnten (dazu gehört, dass man nicht nur eine Meinung hat, sondern diese auch begründet), aber sie haben es nicht getan, weil es nicht verlangt war. Wenn die BPjM so tut, als erfasse sie "Echo und Wertschätzung in Kritik und Wissenschaft", indem sie ein paar Sätze von McHolsten zitiert, ist das eine Travestie.

Um deutlich zu machen, wie grotesk das "Prüfverfahren" dieser Behörde ist, wollen wir uns einen hypothetischen Fall vorstellen. Nehmen wir an, ich suche mir ein Internetforum und lege mir einen Benutzernamen zu. Dann schreibe ich als "Rächer der Zensierten" folgenden Kommentar:

Die Bundesprüfstelle ist ein peinliches Relikt aus der Adenauerzeit. Bei dieser Behörde reden die Blinden über die Farbe, um dann um einbetonierte Fertigteile herum Begründungen für Verbote zu schreiben, die sich lesen, als wäre vor Jahren die Platte hängen geblieben, was bis heute keiner gemerkt hat.

Frau Monssen-Engberding würde dazu vielleicht sagen, dass das eine unqualifizierte Meinungsäußerung ist; dass jemand, der solche Behauptungen aufstellt, diese begründen muss, wenn er ernst genommen werden will. D’accord, Madame! Denselben Respekt sollte die BPjM auch Filmen und deren Publikum erweisen. Und Achtung an alle Internet-Kommentatoren: Wer heute schnell ein paar Sätze in den Laptop tippt, könnte sich schon morgen in einer IE als Filmkritiker wiederfinden (die Grammatik- und Rechtschreibfehler inklusive). "Der Film", heißt es in einer der IE, "hat in den einschlägigen Kritiken ein umfangreiches und [zum Wohle des Jugendschutzes zensiert] Echo gefunden. (Übersicht bei www.amazon.de, www.ofdb.de)." Wer sich heute noch eine Zeitung oder gar ein Filmbuch kauft, ist blöd.

Hier noch ein Rat an die BPjM: Wer andere zitiert, sollte wenigstens vorher gelesen haben, was da steht. Alles andere ist eine Missachtung der Zitierten. Einer, der von Frau Monssen-Engberding zum Filmkritiker ernannt wurde, schreibt zu [Titel wegen Werbeverbot zensiert] Folgendes:

[…] da der Spannungspegel so hoch ist, dass man förmlich in seinen Sessel gepresst wird. Bis endlich der Abspann kommt, vergehen gut 75 Minuten, die in ihrer Straffheit des Drehbuches auf das Nötigste reduziert, trotz oder gerade ob ihres begrenzten Handlungsraumes eine dermaßen klaustrophobische Atmosphäre schaffen, das [sic] es für Hauptperson und Zuschauer kein Entkommen gibt. … Selten wurde so ausgeklügelt Spannung durch Sound, Schnitt und Sympathie erzeugt wie hier.

Sechs Zeilen weiter unten resümiert die BPjM in dem, was sie als Begründung ausgibt:

Zwar ist der Film, wie oben erläutert, grundsätzlich ein Werk der Kunst, allerdings lässt sich den einschlägigen Kritiken auch entnehmen, dass der Film wenig an überraschender Handlung aufweist und sich die dramaturgische Leistung in Grenzen hält.

Spannung ja, Dramaturgie nein. Sonst könnte es womöglich zu viel Kunst sein, und das - sagt das Bundesverfassungsgericht - müsste dann berücksichtigt werden. Besser kann man sich selber nicht entlarven. Hat das auf Gewalt fixierte 3er-Gremium die Ausführungen in der von ihm zitierten "Kritik" womöglich überlesen, weil da gar nicht von "Metzeleien" die Rede ist?

Der zitierte Kritiker hat übrigens etwas sehr Wichtiges bemerkt. Alle vier indizierten Filme sind klaustrophobisch, sie spielen auf engem Raum, die Handlung konzentriert sich auf ein Wochenende oder gar nur eine Nacht. Das erfordert eine völlig andere Dramaturgie als bei Ben Hur oder Vom Winde verweht. In den 37 IE-Seiten zu den vier Filmen gibt es keinen Hinweis darauf, dass das jemandem von den "Prüfern" bewusst war. Wenn ich aber nicht weiß, was Dramaturgie ist, kann ich auch deren Qualität nicht beurteilen.

Frontière(s) wurde von der FSK in einer um acht Minuten gekürzten Fassung ab 18 freigegeben. Eine etwas längere Version erhielt von der SPIO ein "JK geprüft: keine schwere Jugendgefährdung", nachdem drei Minuten aus dem Original herausgeschnitten worden waren. Diese Fassung steht seit Februar 2009 auf dem Index. Das 3er-Gremium hat die schriftlichen Ausführungen der Juristenkommission sowie der FSK zur Freigabe ab 18 gelesen. Die JK schreibt, dass es in der jetzt indizierten Version Gewalt gibt, aber keine Gewaltverherrlichung; dass die Gewaltdarstellungen abstoßend wirken und dass der Zuschauer keine andere Wahl hat, als sich mit den Opfern zu identifizieren. Eine Indizierung rechtfertigt ein solcher Befund noch nicht.

Frauenverachtende Nazis und rezipierende Kannibalen

Indiziert wurde trotzdem. Wie macht man das? Ganz einfach. Man pflegt eine rein quantitative Art der Filmbetrachtung und zieht daraus Rückschlüsse auf die künstlerische Qualität. Quantität ist zwar eigentlich etwas anderes als Qualität (weshalb es zwei verschiedene Wörter gibt), aber wenn man ordentlich Gewalt dazwischen schiebt, fällt das nicht weiter auf. Die SPIO, entnehme ich der IE, hat festgestellt, dass "die vorhandenen Gewaltakte einer stringenten Filmdramaturgie untergeordnet seien" (Seite 3). Die Gewaltdarstellungen "seien derart in die filmische Dramaturgie eingebettet, dass sie nicht selbstzweckhaft erschienen, sondern als Teil des künstlerischen Gestaltungswillens zu sehen seien".

Vier Seiten und acht vom 3er-Gremium aufgezählte Gewalttaten später ist von der "stringenten Filmdramaturgie" nichts mehr übrig:

Auch wenn die Gewalttaten weitgehend aus der Opferperspektive rezipiert werden, kann eine verrohende und zu Gewalttätigkeit anreizende Wirkung nicht ausgeschlossen werden, sie ist aufgrund der Intensität und Dichte der Folter- und Gewaltszenen sogar wahrscheinlich. Der Film legt es schon im Titel darauf an Grenzen zu überschreiten. So wird mit sämtlichen Klischees gearbeitet, die die Grenzen des durch die Gesellschaft Tolerierten deutlich herausfordern: Nationalsozialismus, Frauenverachtung, Kannibalismus, Behindertendiskriminierung. Sämtliche dieser Kategorien werden diffus bis unlogisch und äußerst oberflächlich thematisiert.

Bliebe nur noch zu klären, ob dieser Film so wirr ist (die Juristen von der SPIO fanden das nicht), oder ob die Wirrnis doch eher in den Köpfen des 3er-Gremiums herrscht, das ihn rezipiert hat. Das Gremium hätte einer solchen Verdächtigung leicht vorbeugen können, wenn es sein Urteil begründet hätte. Leider Fehlanzeige. Das Gremium addiert, statt zu analysieren. Unfreiwillig komisch wird das, wenn man Nazis, Frauenfeinde, Kannibalen und Behindertendiskriminierer in eine Reihe stellt. Ich frage mich auch, ob das, was die FSK laut IE (Seite 3) zu bemängeln hatte, wirklich so im FSK-Gutachten steht, oder ob wir die schöne Reihung wieder dem 3er-Gremium zu verdanken haben: "[…] Themen wie Inzucht, Kannibalismus und Drogenkonsum könnten auf 16jährige [sic] sehr wohl desorientierend wirken und verrohende Tendenzen fördern." Was für eine Vorstellung von den 16-Jährigen spricht eigentlich aus einem solchen Satz? Gleichaltrige Franzosen dürfen den Film ungekürzt sehen. Von einer Zunahme des Kannibalismus unter Teenagern ist nichts bekannt.

Einige von den Opfern in Frontière(s) setzen sich zur Wehr. Das könnte Kinder und Jugendliche zur Selbstjustiz anreizen, und so etwas war schon immer ein guter Grund für eine Indizierung. So lässt sich das, was gegen eine Indizierung spricht (Identifikation des Publikums mit den Opfern), in sein Gegenteil verkehren. IE, Seite 5:

Die dargestellte Gewalt wird durch die Rezipientinnen und Rezipienten in der Tat zunächst aus der Opferperspektive erlebt und dürfte in aller Regel abstoßende Wirkung haben. Die Opferperspektive wechselt aber gegen Ende des Films, wenn Yasmin zu ihrem Freiheitskampf ansetzt und die eigentlichen Täter auf ausgesprochen blutige und metzelhafte Art getötet werden. […] Dass diese Taten durch die Sympathieträgerin des Films begangen werden, gibt ihnen einen selbstjustiziellen Charakter. Im Vergleich zur 96minütigen Fassung [FSK ab 18] erhält dieser Umstand eine eigene verstärkte Bedeutung.