"Boris Palmer vertritt eine Einzelmeinung"

Luise Amtsberg, die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, über schmerzhafte Kompromisse in der Asylpolitik, unsolidarische EU-Staaten sowie die Kritik an der Außendarstellung ihrer Partei

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Luise Amtsberg ist Islamwissenschaftlerin, seit 2013 Abgeordnete im Bundestag und Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion für Flüchtlingspolitik und für Bürgeranliegen.

Frau Amtsberg, welche Entscheidungen der großen Koalition in der Flüchtlingskrise haben Ihnen zuletzt gut gefallen?
Luise Amtsberg: Gar keine. Die Stoßrichtung beinahe aller Entscheidungen ist falsch. Die Forderungen De Maizières, Syrern nur noch subsidiären Schutz zu gewähren, um darüber den Familiennachzug zu verhindern, lehnen wir entschieden ab. Der Familiennachzug ist einer der wenigen legalen Einreisewege in die EU. Ohne ihn gefährdet man Schutz suchende Frauen und Kinder, denen dann nur noch die gefährliche Flucht über das Mittelmeer bliebe. Solche Forderungen zeugen nur von Inkompetenz und verdeutlichen die Ratlosigkeit des Innenministers, der stattdessen endlich an der überfälligen Bewältigung des Antragsstaus arbeiten sollte.
Und weshalb hat Ihre Partei im Bundestag dann nicht gegen das Asylpaket gestimmt?
Luise Amtsberg: Wir haben in einer Einzelabstimmung Vorschläge wie die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten abgelehnt. Bei der Endabstimmung haben wir uns enthalten, weil wir die dauerhafte finanzielle Unterstützung der Kommunen für unverzichtbar halten. Die Grünen in den Ländern hatten es da deutlich schwerer: Von Anfang an war klar, dass es im Interesse der Handlungsfähigkeit der Kommunen eine Einigung zwischen Bund und Ländern geben muss. Der ausgehandelte Kompromiss war ein harter.
Die Grünen sind an neun Landesregierungen beteiligt, ohne sie wäre das Vorhaben im Bundesrat gescheitert. Sie werden in Zukunft nicht sagen können, Ihre Partei habe sich gegen die Verschärfung des Asylrechts gesträubt - kein Problem für Sie?
Luise Amtsberg: Natürlich ein Problem. Die Verschärfungen sind mitnichten grüngewollt. Sie waren Ergebnis langer und zäher Verhandlungen. Ich nenne nur die Stichworte Leistungskürzungen, Sachleistungen und sichere Herkunftsstaaten. Die Bundesregierung hat die Bereitschaft, die Kommunen dauerhaft finanziell zu unterstützen, an restriktive Bedingungen gekoppelt. Und die Grünen in den Ländern sind diesen Kompromiss eingegangen - nicht ohne Zweifel, nicht ohne Bauchschmerzen.
Mehr als 10.000 Flüchtlinge sind am vergangenen Wochenende über die österreichische Grenze nach Bayern gekommen...
Luise Amtsberg: ...Eine sehr schwierige Situation, ja. Aber nur deshalb, weil wir nicht auf so viele Menschen vorbereitet waren. Wir Grüne drängen im Bundestag seit vielen Jahren darauf, die Strukturen auszubauen - konkret: Asylverfahren zu beschleunigen und Sprachkurse für alle Flüchtlinge zu öffnen. Leider haben sowohl CDU als auch SPD darüber oft nur milde gelächelt. Und jetzt? Der Druck wächst und alle schreien plötzlich, sie seien überfordert. Das ist schräg.
Wir haben uns eine Menge der Probleme selbst zuzuschreiben und sollten ebenjene nicht den Flüchtlingen vorwerfen. Ganz deutlich: Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt - mit einer starken Wirtschaft. Wir haben auf der anderen Seite einen demografischen Wandel und Fachkräftemangel. Deutschland ist also auf Einwanderung angewiesen. Ich wäre froh, wenn die Bundesregierung diese Chance endlich begreift.
Ist es aus Ihrer Sicht überhaupt möglich, die Flüchtlingsbewegung zu verlangsamen und zu verringern, ohne dass Deutschland damit gegen EU- und Völkerrecht verstößt?
Luise Amtsberg: Sie spielen damit auf die Debatte um die Transitzonen an, richtig?
Zum Beispiel.
Luise Amtsberg: Das ist doch alles sehr minimalistisch gedacht, egal wie man diese Zonen nun nennt. Sie wären nicht praktikabel und inhuman. In einem Wort: Symbolpolitik.
Die große Koalition hat sich nun auf zentrale Registrierstellen für Flüchtlinge mit geringer Bleibeperspektive geeinigt - Ihr Kommentar?
Luise Amtsberg: Die Vorstellung, große Zentren für Menschen vom Westbalkan einzurichten, widerstrebt mir. Für mich gibt es keine zwei Klassen unter den Flüchtlingen. Ich maße mir auch nicht an, mit Blick auf die Nationalität einschätzen zu können, wer eine gute und wer eine schlechte Bleibeperspektive hat.
Das eigentliche Problem, nämlich die Beschleunigung von Asylverfahren, wird damit wieder nicht erreicht. Das ist ein Trauerspiel. Wir kommen nicht drumherum, das Problem auf EU-Ebene zu lösen. Wenn wir es nicht schaffen, eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik umzusetzen, dann wird es schwierig für Deutschland. Wir brauchen endlich eine Verteilung, an der sich alle Mitgliedsstaaten beteiligen.

Wir haben die südeuropäischen Staaten viel zu lange allein gelassen

Auf europäischer Ebene ist in den kommenden Wochen nicht mit einer Einigung zu rechnen. Was nun, Frau Amtsberg?
Luise Amtsberg: Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie noch intensiver versucht, die europäischen Staaten von einer gemeinsamen Politik zu überzeugen. Ein erster Schritt wäre es zum Beispiel, nicht nur von der Abschaffung der Dublin-Regelung zu reden, sondern ein Alternativkonzept vorzulegen. Nur so kann man andere vom eigenen Kurs überzeugen. Ohne eine gemeinsame europäische Agenda geht es nicht. Das weiß auch die Bundesregierung.
Demnach wäre Frau Merkel in der jetzigen Situation hilflos - weshalb dann all die Vorwürfe in ihre Richtung?
Luise Amtsberg: Ich bin die Letzte, die Kanzlerin Merkel für ihre derzeitige Haltung in der Flüchtlingspolitik kritisieren würde. Nur leider setzt sie sich nicht durch mit ihrem Kurs. Um den inneren Frieden zu wahren, ließ sie der CSU zum Beispiel die Debatte um die Transitzonen. Die CSU ihrerseits kommt immer wieder mit neuen, skurrilen und völlig unnützen Vorschlägen. Sie wählt dabei eine gefährliche Sprache.
Eine weitere Zahl: In der EU könnten nach einer Prognose aus Brüssel bis Ende des kommenden Jahres drei Millionen Flüchtlinge ankommen.
Luise Amtsberg: Schaut man sich die Krisenregionen an, überrascht das nicht. Die Frage ist doch: Gelingt es uns in Europa, eine gemeinsame Sprache zu finden und das "Weiterschicken" der Verantwortung zu beenden. Wir haben die südeuropäischen Staaten viel zu lange allein gelassen und währenddessen zugeschaut, wie Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken.
Die CDU gehörte bis vor kurzem zu den stärksten Befürwortern der Dublin-Verordnung. Es ist mir ein Rätsel, weshalb wir nun wieder den Fehler machen und warten, bis alle EU-Staaten sich irgendwann einigen. Ein paar Länder müssen jetzt vorangehen, Zeichen setzen, einfach mal anfangen.
Apropos, was halten Sie von den sogenannten Hotspots in Italien und Griechenland, in denen Flüchtlinge registriert werden?
Luise Amtsberg: Ich benutze die Begrifflichkeit "Hotspot" nicht gern. Aus meiner Sicht kann eine gerechte Verteilung in Europa aber tatsächlich nur mit europäischen Erstaufnahmeeinrichtungen gelingen. Die Weiterverteilung in die EU ist aber eine zwingende Voraussetzung, sonst werden diese Orte zur Sackgasse für Flüchtlinge. Zudem müssen wir die Staaten, in denen diese Erstaufnahmeeinrichtungen geschaffen werden, finanziell stark unterstützen sowie eine medizinische Notversorgung und Unterbringung für alle Ankommenden gewährleisten. Wie genau das aussehen soll, ist derzeit aber noch völlig unklar.
Ohnehin sollten wir uns genau anschauen, was jedes einzelne Land leisten kann. Ein absolutes Negativbeispiel ist aus meiner Sicht Großbritannien. Das Verhalten der britischen Regierung in der Flüchtlingskrise ist nicht nur unsolidarisch, sondern beschämend.
Fordern Sie Sanktionen gegen jene Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen?
Luise Amtsberg: Darüber sollte man ernsthaft nachdenken. Denn so wie bisher kann es nicht weitergehen. Wer sich der Flüchtlingsaufnahme derart entzieht, entfernt sich damit vom Konsens unserer Gemeinschaft. Es heißt stets, wir seien ein Europa der Sicherheit, Freiheit und des Rechts. Dann müssen wir auch entsprechend handeln. Diejenigen Länder, die sich unseren Grundwerten versperren, haben sich in meinen Augen von der der Kernidee Europas verabschiedet.
Sind EU-Austritte denkbar?
Luise Amtsberg: Wir dürfen es nicht soweit kommen lassen, dass derlei Befürchtungen Realität werden. Wir müssen diesen Staaten klar machen, dass eine gemeinschaftliche Flüchtlingspolitik für alle Beteiligten die beste Lösung ist. Würde jedes Land seine Grenzen dicht machen, Zäune errichten und Flüchtlinge zurückschieben, schadeten wir nicht nur den Menschen, die Schutz suchen, sondern auch uns selbst.

Wichtig ist, dass wir aus dem Krisenmodus rauskommen

Zurück zu Ihrer Partei, Frau Amtsberg: Migrations-, Integrations- und Asylpolitik, allesamt Themen, bei denen den Grünen bislang in Umfragen stets eine hohe Kompetenz zugeschrieben wurde. Was antworten Sie jenen Wählern, die sagen, Ihre Partei würde genau diese Kompetenz in der aktuellen Debatte nicht für sich nutzen oder gar aufs Spiel setzen?
Luise Amtsberg: Ich halte diese Analyse für falsch. Es gibt keinen Grünen, der zurzeit nicht an einer Lösung vor Ort arbeitet. Die Kernfrage ist, inwieweit ist es für unsere Wählerinnen und Wähler - aber auch für unsere Mitglieder - in Ordnung ist, wenn Regierungsgrüne Kompromisse schließen. Wir haben unlängst gelernt, dass grüne Programmatik nicht immer den Praxistest besteht. Trotzdem halte ich es für richtig, an unseren Grundsätzen festzuhalten und sie zur Leitlinie unseres politischen Handelns zu machen.
Wie gefährlich ist die aktuelle Phase für Ihre Partei?
Luise Amtsberg: Ich halte die Situation nicht für gefährlich. Ich begreife es eher als einen weiteren Lernprozess. Klar ist für mich aber auch: Ich will nicht nur meckern, sondern dass wir Grüne an Lösungen mitarbeiten. Und seien wir mal ehrlich: Die Debatte, auf die wir uns steil zubewegen, ist die der Obergrenzen für Flüchtlinge. Ich will, dass Grüne in den Ländern ihren Einfluss geltend machen und diese Debatte verhindern. Das kann im Zweifel aber auch bedeuten, dass Eingeständnisse an anderer Stelle gemacht werden müssen.
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer spricht von "Überforderung" und "Diskursverboten", Ihre Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt dagegen von "Chancen" und "Willkommenskultur". Haben Sie Verständnis dafür, wenn Wähler sagen, sie könnten nicht einschätzen, wofür die Grünen in der Flüchtlingsdebatte stehen?".
Luise Amtsberg: Boris Palmer vertritt eine Einzelmeinung und verwechselt das mit angeblichen Diskursverboten. Ich finde es legitim, die Probleme zu benennen, die es zweifelsohne gibt. Aber zu behaupten, Deutschland könne, egal wie es sich anstrenge, die derzeitige Lage nicht meistern, ist doch absurd. Noch mal: Deutschland geht es gut - und damit das so bleibt, brauchen wir Zuwanderung. Eine zügige Integration der Schutzsuchenden ist der einzig kluge Weg. Ich bin da ganz klar bei der Vorsitzenden meiner Fraktion.
Wann stellt Ihre Partei ein eigenes, umfassendes Konzept vor?
Luise Amtsberg: Das Konzept ist doch längst da: Wir haben einen Vorschlag für ein Einwanderungsgesetz gemacht im Parlament. Auf europäischer Ebene vertreten wir, dass es einen neuen Verteilschlüssel braucht, der die Wirtschaftskraft und Größe eines Landes einbezieht. Wir müssen Fluchtursachen vor Ort bekämpfen und die Lage in den Nachbarstaaten der Krisenregionen verbessern.
Und in Deutschland gilt es, bereits jetzt Strukturen aufzubauen, vor allem bei den Sprachkursen, damit Flüchtlinge eine Möglichkeit haben, schnell ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Hiermit zu beginnen, wäre die halbe Miete, davon bin ich überzeugt. Und in der jetzigen Notsituation braucht es flexible Lösungen, auch wenn das nicht die reine grüne Lehre ist.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Luise Amtsberg: Mindeststandards in Flüchtlingsunterkünften. Bis vor einem Jahr haben wir eisenhart festgehalten an unseren Vorstellungen: Soundsoviel Quadratmeter pro Flüchtling, diese und jene Ausstattung in den Zimmern und sanitären Einrichtungen - all dies sind gute und richtige Vorsätze. Momentan bewegt sich die Realität aber eher bei der Frage, ob wir Zelte aufbauen müssen oder es überhaupt schaffen, alle Schutzsuchenden ins Trockene und Warme zu bringen - leider.
Fühlt sich das an wie eine Niederlage?
Luise Amtsberg: Nein. Wichtig ist, dass wir handeln und aus dem Krisenmodus rauskommen. Nur so wird es gelingen, zu den alten Grundsätzen zurückzukehren.