Breitscheidplatz: Wie lange wurde der Anschlag vorbereitet? Und von wem?

Seite 2: Wie lief der Anschlag genau ab?

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Die Fragen zum Tatgeschehen werden mehr, auch weil bisher nicht bekannt ist, was die obersten Ermittler, Bundesanwaltschaft und BKA, an gesicherten Erkenntnissen besitzen. Weil die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse bislang nicht umfassend aufgeklärt wurden, müssen sie jeder Information, Teilinformation oder Scheininformation hinter her kehren.

Beispiel Tat-LKW. Mehrere Zeugen geben an, im Führerhaus zwei Männer gesehen zu haben. Jetzt berichtet Focus über eine Zeugin, die sogar drei Personen wahrgenommen haben will.

Der LKW, der einer polnischen Spedition gehörte, war am 18. Dezember 2016 von Mailand aus gestartet. Noch vor seiner Ankunft in Berlin soll es, wie der Abgeordnete Konstantin von Notz (Bündnisgrüne) in der vorherigen Sitzung berichtete, Eindringversuche in die Fahrerkabine des LKW gegeben haben.

Der Abgeordnete Benjamin Strasser (FDP) ist erneut auf eine Merkwürdigkeit im Umgang mit Amri gestoßen. Zwei Tage, nachdem das LKA von Nordrhein-Westfalen (NRW) ihn als sogenannten "Gefährder" einstufte, am 17. Februar 2016, baten die Düsseldorfer das Bundeskriminalamt, den Fall zu übernehmen. Doch das BKA lehnte ab. Das Übernahmeersuchen geschah im Rahmen einer Sitzung des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrums (GTAZ) am 19. Februar 2016. Im Protokoll der fraglichen Sitzung steht nichts davon.

Am 18. Februar 2016 war Amri von NRW nach Berlin gereist und kurzzeitig festgenommen worden. Kriminalhauptkommissar Alexander S., der als Vertreter des BKA damals an der GTAZ-Sitzung teilgenommen hatte, wollte sich im Ausschuss nur "schwach" an den Vorgang einer Übernahmebitte erinnern und bestritt, dass das BKA den Fall hätte übernehmen können, er sei Ländersache gewesen.

Für den FDP-Abgeordneten keine "verantwortungsvolle" Haltung des BKA. Außerdem eine widersprüchliche, denn um Amris Komplizen Ben Ammar hatte sich das BKA ja "gekümmert". Im Ermittlungsverfahren "Eisbär" gegen drei verdächtige Islamisten wurde Ben Ammar vom BKA als sogenannter "Nachrichtenmittler" eingesetzt. Dasselbe machte das LKA von NRW mit Amri im Ermittlungsverfahren "Ventum" gegen die Abu-Walaa-Gruppe. Ihre Telefone wurden abgehört.

Warum aber galten die beiden nicht selber als Beschuldigte? Das ist nicht ganz klar. Zumal sie Teil der jeweiligen Gruppe waren und konspirativ Nachrichten weitergaben. Hatten die Ermittler tatsächlich zu wenig gegen beide in der Hand und handelte es sich bei dem Status als "Nachrichtenmittler" um eine Konstruktion, um die Personen überwachen zu können, ohne dass die Polizei einen konkreten Tatverdacht gegen sie begründen musste? Eine Ausweitung der Abhörmöglichkeiten und Erweiterung des polizeilichen Instrumentariums sozusagen? Oder aber erklärte man eine Person bewusst gerade nicht zu einem Beschuldigten, weil es sich um eine Quelle handelte? Weder bei Ben Ammar noch bei Amri ist diese Frage abschließend beantwortet.

V-Person in der Islamistengruppe

Jetzt erfuhr man im Ausschuss, dass das BKA in der Islamistengruppe in Berlin, gegen die unter dem Namen "Eisbär" ermittelt wurde, eine V-Person hatte, sprich: einen Spitzel. Um wen es sich handelte, ist zur Zeit noch nicht bekannt. Viele Möglichkeiten gibt es aber nicht.

Leute aus dieser Gruppe versuchten, in Deutschland Personen zu rekrutieren, die in Syrien für den Islamischen Staat (IS) kämpfen sollten. An diesen Aktionen war auch ein V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Berlin beteiligt, sein Name: Emanuel P. Damit wären also mindestens zwei Quellen von Sicherheitsbehörden in die Schleusung von Kämpfern Richtung Naher Osten involviert gewesen.

Da sich die Gruppe in Berlin bewegte, war auch das Landeskriminalamt in die Ermittlungen einbezogen. Emanuel P. galt als Tatverdächtiger. Dass er in staatlichen Diensten stand, wusste die zuständige Kriminalbeamtin des LKA nicht, wie sie den Abgeordneten erklärte. Unklar ist, ob die Staatsanwaltschaft in das Manöver eingeweiht war oder ob der Verfassungsschutz auch die federführende Ermittlungsbehörde im Unklaren gelassen hatte. Über die LfV-Quelle erfuhr die Kriminalbeamtin später durch die Staatsanwaltschaft. Dort war das Verfahren ganz oben angesiedelt - bei Oberstaatsanwalt Dirk Feuerberg, Vize-Generalstaatsanwalt, der auch in die Causa Amri persönlich involviert war.

Im September 2015 fand bei Emanuel P. eine Wohnungsdurchsuchung statt. Kurz danach wurde er abgeschaltet. Unerfindlicherweise wurde sein Laptop von den Gegenständen, die beschlagnahmt wurden, ausgenommen. Diese Entscheidung hatte aber nicht die Fallführerin getroffen, die Kriminalbeamtin S.D., sondern ihre Chefin im LKA Berlin. Die arbeitet inzwischen beim Bundesamt für Verfassungsschutz.

Aussageverweigerung

Zwei Beamte aus jener Abteilung im LKA Berlin wollte der Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz einen Tag später als Zeugen vernehmen. Beide verweigerten grundsätzlich und vollständig die Aussage. Über den Konflikt wird ein Gericht entscheiden müssen.

Die Geschichte der beiden Kriminalbeamten "Herr L." und "Herr O." kann heute geradezu als archetypisch für den Umgang des Sicherheitsapparates mit dem Anschlag und dem mutmaßlichen Attentäter gelten. "O." war stellvertretender Kommissariatsleiter.

"L." und "O." hatten mit Anis Amri zu tun und kannten sein kriminelles Treiben genau: Er war nicht nur als "islamistischer Gefährder" eingestuft, sondern auch als "gewerbs- und bandenmäßiger Drogendealer" sowie als Mittäter einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung (Messerstiche) bekannt. Dennoch wurde Amri nicht verhaftet. Maßgeblich verantwortlich für diese Unterlassung war, nach allem was man bisher weiß, auch der Generalstaatsanwalt-Vize Feuerberg.

Bekannt wurden "L." und "O." dann aber vor allem, weil sie nach dem Anschlag die Akte Amri manipuliert hatten. Im Januar 2017 fertigten sie einen Bericht, in dem sie Amris Drogentaten abschwächten und zudem seine Komplizen verschwiegen. Der Falschbericht wurde auf den 1. November 2016 zurückdatiert und in die Akte geschmuggelt.

Heraus kam das im Mai 2017 durch die Recherchen des vom Senat eingesetzten Sonderermittlers Bruno Jost, ein ehemaliger Bundesanwalt der Bundeanwaltschaft. Daraufhin richtete der Innensenator von Berlin, Andreas Geisel (SPD), nicht nur eine polizeiinterne Untersuchungskommission ein (Task Force Lupe), sondern erstattete auch Anzeige gegen die LKA-Beamten wegen Strafvereitelung im Amt. Zusätzlich wurden Disziplinarverfahren gegen L. und O. angestrengt.

Im April 2018 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen die Polizeibeamten L. und O. ein. Zwar gebe es Indizien für ein "Kleinschreiben" der Amri-Delikte und die "Fälschung" von Daten, es sei aber nicht erwiesen, so die Behörde, dass das mit Täuschungsabsicht geschah. Ein Persilschein, mit dem die Behörde nicht nur zwei Polizisten schützte, sondern in gewisser Weise auch sich selbst und ihre Führung: Vizechef Feuerberg und Generalstaatsanwältin Margarete Koppers. Bevor sie oberste Staatsanwältin in der Stadt wurde, war sie Polizeivizepräsidentin, also die ehemalige Chefin der zwei beschuldigten LKA-Beamten.

Die Disziplinarverfahren gegen L. und O. laufen noch. Beide erschienen mit Rechtsbeiständen im Abgeordnetenhaus und erklärten, von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch zu machen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die strafrechtlichen Ermittlungen gegen sie wieder aufgenommen werden, so ihre Begründung. L. sprach den Opfern noch sein Mitgefühl aus und wünschte dem Untersuchungsausschuss viel Erfolg.

Man kann in ihrem Aussageverhalten auch eine Fortsetzung ihrer Vertuschungsversuche sehen. Die Abgeordneten stellten reihum dennoch einige Fragen, die die Zeugen stets mit derselben Formel beantworteten, sie nicht beantworten zu wollen: "Hat das LKA Berlin vom LKA Nordrhein-Westfalen die Auswertung von Chats Amris erhalten?" - "Welche Gepflogenheiten gibt es zwischen LKA und Verfassungsschutz, was die Führung von V-Personen angeht?" - "Wie kamen Sie zur Polizei?" - "Gab es Gefährder, die wie Amri eingeschätzt wurden oder höher?"- "Das LKA hatte das BKA um Auskunft zu Habib Selim und Bilel Ben Ammar gebeten: Haben Sie je Antwort erhalten?"

Selbst zu Aussagen, die sie im Februar 2018 gegenüber einer Zeitung gemacht haben, wollten sie sich nicht äußern. Und auch gegenüber der Staatsanwaltschaft hatten sich die beiden Beamten in ihrem Verfahren umfangreich ausgesagt. Die Protokolle umfassen über 30 Seiten. Umso ärgerlicher für den Abgeordneten Benedikt Lux (Bündnis 90/Grüne), dass ein Parlament dagegen "kein Wort" erfährt.

Der Ausschuss bestreitet das Vorliegen hinreichender Gründe für ein komplettes Auskunftsverweigerungsrecht. Das Protokoll des Prozedere, das der Linken-Abgeordnete Niklas Schrader ein "Theaterstück" nannte, soll nun dem Landgericht zugeleitet werden, verbunden mit dem Antrag auf Verhängung eines Ordnungsgeldes, das bis zu 10 000 Euro betragen kann. Einer Entscheidung des Gerichtes wollen sich die Polizeibeamten beugen.

Thomas Moser 8