Bringt Deutschland auch Opfer für Taiwan?
Bundesrepublik nähert sich USA-Position zur Volksrepublik China an. Reise von Bundestagsdelegation gilt als weitere Provokation. Abbruch diplomatischer Beziehungen könnte verheerende Folgen für Deutschland und die Welt haben.
Die Bundesregierung erkennt Taiwan nicht als souveränen Staat an und unterhält diplomatische Beziehungen im Rahmen der Ein-China-Politik nur zur Volksrepublik China. Wegen der Vermeidung der impliziten Anerkennung einer Staatlichkeit Taiwans bestehen grundsätzlich keine Kontakte auf der Ebene der höchsten Staatsämter. Dazu gehört auch das Amt des Parlamentspräsidenten.
Michelle Müntefering
So antwortete die Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik Michelle Müntefering (SPD) am 13. Juni 2018 im Bundestag auf die Frage, warum Deutschland dem Vorsitzenden des taiwanischen Parlaments, Su Chia-chyuan, die Einreise verweigere. Gestellt hatte sie Klaus-Peter Willsch (CDU), der Vorsitzende des Parlamentarischen Freundeskreises Berlin-Taipeh.
Seit die UN-Generalversammlung am 25. Oktober 1971 mit der Resolution 2758 beschlossen hat, die Volksrepublik China (VR China) als einzigen rechtmäßigen Vertreter der chinesischen Bevölkerung anzuerkennen, verlangt die Volksrepublik von ihren Handelspartnern das klare Bekenntnis zur "Ein-China-Politik".
Die VR China ist mit Abstand der größte Handelspartner Deutschlands – und Deutschland der wichtigste Handelspartner der VR China in Europa (siehe: Deutschland ohne China-Handel?).
Setzt Deutschland mitten in einer epochalen Wirtschaftskrise seine wichtigsten Handelsbeziehungen aufs Spiel und zündelt mit an einem zweiten atomaren Krisenherd neben der Ukraine? (siehe: Kennen Sie den anderen nuklearen Krisenherd der Welt?)
Exkurs: Die "zwei Chinas" und die "gewaltsame Wiedervereinigung"
Mit dem informellen Ausschluss Taiwans aus der UNO, für den sich die europäischen Länder 1971 geschlossen und als Teil einer deutlichen Mehrheit (76:35:17) unter anderem gegen die Stimme der Vereinigten Staaten ausgesprochen hatte, verlor auch das "zweite China" seinen völkerrechtlichen Vertretungsanspruch: die sogenannte Republik China, die auf dem Festland bis zu ihrer Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg 1949 Bestand hatte und bis heute von Taiwan repräsentiert wird (siehe: China und Taiwan: Wer ist "gut", wer "böse"?).
Die VR China sieht Taiwan als chinesische Provinz, die perspektivisch an Festlandchina angeschlossen werden muss – und gemäß des Alleinvertretungsanspruchs nicht als souveränen Staat. Gegenteilige Bestrebungen seitens der Pazifik-Insel oder diplomatische Kontakte Dritter werden in der VR China gemeinhin als Provokationen beziehungsweise als "Einmischung in innere Angelegenheiten" aufgefasst.
Mit dem Anti-Abspaltungs-Gesetz einigte sich die VR China 2005 darauf, auf "separatistische" Vorstöße Taiwans militärisch zu reagieren. Die vermeintlich unausweichliche Wiedervereinigung hat Präsident Xi Jinping auf dem jüngsten Parteitag der Kommunistischen Partei erneut betont (siehe Telepolis-Artikel: "Parteitag in China: Xi Jinping baut seine Machtbasis aus").
Nachdem sich 2010 mit dem Economic Cooperation Framework Agreement (ECFA) eine Entspannungspolitik anzudeuten schien, verschlechterten sich die Verhältnisse zwischen der VR China und Taiwan im Laufe der Jahre wieder zusehends.
Im Januar 2019 drohte Xi Jinping Taiwan mit einer "gewaltsamen Wiedervereinigung". Diese Drohung hat er kürzlich erneuert – und das hat auch mit dem Verhalten der Bundesrepublik zu tun.
Deutschland als Provokateur?
Am 23. Oktober ist eine Delegation des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestags unter der Leitung von Peter Heidt (FDP) in Taiwan eingetroffen. Es ist bereits die zweite Bundestagsdelegation in diesem Monat. Erst Anfang des Monats reiste eine Gruppe um den eingangs erwähnten Klaus-Peter Willsch nach Taipeh.
Wie das Pressereferat im Bundestag mitteilte, soll es im Gespräch mit der taiwanischen Präsidentin Tsai, Ing-wen "um die Situation von Migrantinnen und Migranten sowie von Minderheiten, um die Todesstrafe und um Geschlechtergerechtigkeit gehen". Ungewöhnlicherweise standen für die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses aber auch Gespräche über "die aktuelle sicherheitspolitische und wirtschaftliche Lage Taiwans" auf der Tagesordnung.
Zweck der Reise sei es, die Zusammenarbeit zu stärken und für "die Selbstständigkeit Taiwans" einzutreten, erklärte Delegationsleiter Heidt vor der Abreise. Er bezeichnete Taiwan dabei "als Staat, der die demokratischen und rechtstaatlichen Werte des Westens teilt".
Obwohl die Delegation behauptet, den von China bedrohten Status Quo beibehalten zu wollen, muss den Beteiligten klar sein, dass derlei Formulierungen in Peking auf Entrüstung stoßen. In einer Stellungnahme vom 25. Oktober forderte das chinesische Außenministerium die deutsche Delegation vorhersehbarerweise dazu auf, "umgehend ihre Interaktion mit den separatistischen Unabhängigkeitskräften Taiwans einzustellen" und den Ein-China-Grundsatz "ernsthaft zu befolgen". Viel Diskussionsstoff für Olaf Scholz' Tagesausflug im November…
Abkehr vom Ein-China-Prinzip?
Kritische Beobachter sehen in diesem Verhalten deutscher Politiker ein "Spiel mit dem Feuer". So schreibt das von der Zeitung Welt als "linkskritisch" eingestufte Internetportal German Foreign Policy (GFP), Berlin erwecke zunehmend den Eindruck, "sich […] sukzessive vom Ein-China-Prinzip abzukehren". In diesem Zusammenhang nennt GFP auch die Stellungnahme der Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock von Anfang August:
Wir akzeptieren nicht, wenn das internationale Recht gebrochen wird und ein größerer Nachbar völkerrechtswidrig seinen kleineren Nachbarn überfällt – und das gilt natürlich auch für China.
Auch diese Aussage (alleine) könne die Volksrepublik nach Meinung der GFP-Autoren bereits mit einer "Aufwertung" Taiwans zum Staat gleichsetzen und als Kampfansage deuten. Interessanterweise haben sowohl Willsch als auch Heidt die Formulierung Baerbocks fast deckungsgleich übernommen.
Stellvertreterkrieg mit Stellvertretern
Die VR China ist nicht die einzige Partei, die – in dem Fall durch "Wiedervereinigung" – eine Veränderung des Status Quo anstrebt.
Denn am wichtigen geostrategischen Standort im Pazifik treffen auch die Interessen der VR China mit denen der Vereinigten Staaten aufeinander. GFP unterstellt den USA eine systematische Agenda zur Aufwertung Taiwans, um China als – den USA zufolge – wichtigsten Wettbewerber um die Gestaltung einer neuen Weltordnung auszuschalten.
Zu diesen Maßnahmen zählt GFP außerdem die – laut Handelsblatt – "massiven" US-Sanktionen gegen die chinesische Halbleiterindustrie, die die VR China zunehmend "in Bedrängnis" bringen. Auch hier steht Taiwan als Hersteller von zwei Dritteln des globalen Mikrochipbedarfs im Mittelpunkt eines Konflikts der konkurrierenden Weltmächte (siehe Telepolis-Artikel: "Handelskrieg: Kampf um jeden Nanometer").
Aus Ihrem Interesse an – oder zumindest der Billigung – einer Konfrontation Chinas machen die USA tatsächlich kein Geheimnis. Anbei eine Auswahl.
Schon im März 2018 unterzeichnete der damalige Präsident Donald Trump einen Beschluss aus dem US-Kongress, der Reisen von Abgeordneten und Besuche auf der Insel Taiwan "ausdrücklich unterstützt[e]".
Im Oktober 2021, kurz vor dem 50. Jahrestag des (informellen) Ausschlusses Taiwans aus der UN, führten US-Politiker mit taiwanischen Regierungsvertretern Gespräche darüber, wie Taiwan wieder mehr in die Uno integriert werden könne.
Im September schlossen die Vereinigten Staaten mit der taiwanischen Regierung zum Ärger der VR China einen milliardenschweren Waffendeal. Auch das Verkehren von US-amerikanischen Kriegsschiffen in der Straße von Taiwan hat nicht gerade zur Entspannung beigetragen.
Im März 2022 machte der ehemalige Außenminister und das ehemalige Oberhaupt der Central Intelligence Agency (CIA), Mike Pompeo, mit der Forderung auf sich aufmerksam, "unverzüglich" Taiwan (und damit die Republik China) als "freies und souveränes Land anzuerkennen". Die Realität, so Pompeo damals, "ist, […] dass es für Taiwan keinen Grund gibt, die Unabhängigkeit zu erklären, weil es bereits ein unabhängiges Land ist."
Und zuletzt sorgte die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im August mit ihrer Reise nach Taiwan für einen weiteren Eklat in der VR China. Peking reagierte daraufhin mit einer Verstärkung der militärischen Drohkulisse im Luftraum und zur See (siehe Telepolis-Artikel: "Nancy Pelosis Taiwan-Besuch könnte für uns alle tödlich enden").
Stürzt sich Deutschland in den nächsten Wirtschaftskrieg?
Mit Blick auf seinen wichtigsten Handelspartner in Europa und dessen politische Vertreter im Ausland formulierte die chinesische Botschaft im August:
Es steht zu hoffen, dass Deutschland, insbesondere die neue Generation der Politiker, die historischen Ursprünge der Taiwan-Frage korrekt und genau versteht, von den Handlungen der USA Abstand nimmt, ihre Verpflichtung zur Ein-China-Politik durch konkrete Handlungen untermauert und ihre Worte und Taten im Hinblick auf die Taiwan-Frage vorsichtig abwägt.
"Eine Einschränkung des China-Handels oder gar einen vollständigen Verzicht würde Deutschland mit einem drastischen Anstieg der Inflation erkaufen", schrieb Christoph Jehle zuletzt auf Telepolis.
Tatsächlich vertraten noch bis vor kurzem einige Sicherheits- und Wirtschaftsexperten die Meinung, eine unbedingte Solidarisierung Deutschlands mit Taiwan sei – im Unterschied zu einem Opfer für die Ukraine – der Volkswirtschaft hierzulande nicht zumutbar. Eine damit eintretende "beispiellose Wirtschaftskrise" sei nicht zu verantworten, erfuhr auch Telepolis in einem Gespräch mit einem ausgewiesenen Experten für internationale Beziehungen.
Abgesehen von der Frage, wann Deutschland also wirklich eine wertebasierte Außenpolitik vertritt und wann eine interessengeleitete Realpolitik im Sinne seiner Bevölkerung überwiegt, stellt sich die Frage: Woher der Sinneswandel?