Britischer Historiker zum Ukraine-Krieg: "EU sollte auf Diplomatie setzen"

Seite 3: Einige ergänzende Anmerkungen

Roberts schätzt ein, dass die ukrainische Gegenoffensive gescheitert sei, die Ukraine den Krieg gegen Russland verlieren und als ein dysfunktionaler Rumpfstaat enden werde, wenn es nicht bald zu einem Kriegsende durch Diplomatie komme.

Die Befürchtung, dass dieser Krieg aus der Ukraine einen dysfunktionalen Rumpfstaat machen werde, wenn er noch lange weitergeführt wird, vertritt auch John Mearsheimer, der eine Reihe von Belegen für diese Beurteilung anführt.2

Roberts sagt, dass für ihn eine der besorgniserregendsten Dinge an dem Krieg die mangelnde Angst des Westens vor einer Eskalation sei, und er spricht auch von der Möglichkeit einer nuklearen Eskalation durch die USA für den Fall, dass der Westen in dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine besiegt werde und die USA nur so in der Lage wären, Europa vor einem russischen Angriff zu verteidigen.

Glücklicherweise gibts aber nach seiner Auffassung keine Beweise dafür, dass Russland solche Absichten habe, denn während des gesamten Krieges habe Putin versucht, die vom Westen ausgehende Eskalationsdynamik einzudämmen.

Im Unterschied zu Roberts hat Mearsheimer eine mögliche russische Eskalation bis zu einem eventuellen Einsatz von Atomwaffen im Blick und sagt in seiner Analyse, ein russischer Sieg verringere die Gefahr eines Atomkriegs deutlich, da eine nukleare Eskalation am wahrscheinlichsten sei, wenn die ukrainischen Streitkräfte siegen und alle bzw. die meisten Gebiete zurückerobern würden, die Kiew an Moskau verloren habe.

Sollte Russland den Krieg in der Ukraine verlieren und der russische Staat dadurch in seiner Existenz bedroht sein, werde die russische Führung entsprechend ihrer Nukleardoktrin wahrscheinlich überlegen, dieses Desaster mit dem Einsatz von Atomwaffen abzuwenden.3 Er schreibt:

Wenn ich mich jedoch irre, wohin der Krieg führt, und das ukrainische Militär die Oberhand gewinnt und beginnt, die russischen Streitkräfte nach Osten zu drängen, würde die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Einsatzes natürlich erheblich steigen, was jedoch nicht heißt, dass das eine Gewissheit wäre.

John Mearsheimer

Weiterhin sagt Roberts, der russisch-ukrainische Krieg sei der unvermeidlichste und zugleich vermeidbarste Krieg der Geschichte.

Mit der Einschätzung, der Ukraine-Krieg sei der "unvermeidlichste" Krieg, weist er auf die Jahrzehnte-langen Provokationen hin, wie das auch schon Mearsheimer4 und Jeffrey Sachs5 ausführlich getan haben.

Und wenn er sagt, der Krieg in der Ukraine sei der "vermeidbarste" Krieg in der Geschichte, dann meint er damit, dass es eine Reihe von Möglichkeiten vonseiten des Westens, d. h. den USA, gegeben hätte, den Ausbruch des Krieges zu verhindern, wenn die Entscheidungsträger in den USA das gewollt hätte.

Dazu sagt Roberts in einer größeren Abhandlung, die im Dezember 2022 veröffentlicht wurde6:

Hätte ein russisch-westliches Abkommen einen Krieg verhindern können, der die Nato-Erweiterung stoppte und die Ukraine im Gegenzug für solide Garantien der ukrainischen Unabhängigkeit und Souveränität neutralisierte? Gut möglich.

Kein Krieg ist unvermeidlich bis zum Moment der Entscheidung. Das galt im Februar 2022 genauso wie im Juli 1914. Ein ständiges Thema in Putins öffentlichem Diskurs während der Krise vor der Invasion war sein extremes Misstrauen gegenüber dem Westen, insbesondere gegenüber den Vereinigten Staaten.

Bedeutende Zugeständnisse des Westens in Bezug auf Russlands Sicherheitsbedenken hätten seine dunkelsten Vorahnungen besänftigen und ihn davon überzeugen können, dass die Risiken des Friedens geringer waren als die eines Krieges. Dass die USA und der Westen es nicht taten, bedeutet nicht, dass sie es nicht hätten tun können.

Geoff Roberts, Dezember 2022

"Die EU sollte auf Kriegstreiberei verzichten und auf Diplomatie setzen", sagt Roberts gegen Ende des Interviews. Ein diskussionswürdiger detaillierter Verhandlungsvorschlag für ein Friedensabkommen in der Ukraine wurde kürzlich von Prof. Dr. Peter Brandt, Prof. Dr. Hajo Funke, General a. D. Harald Kujat und Prof. Dr. h.c. Horst Teltschik vorgelegt. Dieser wurde am 1. September 2023, dem Antikriegstag, vonseiten der IPPNW in einem Appell an die Bundesregierung, diplomatische Initiativen für einen Verhandlungsfrieden zu unterstützen, veröffentlicht und ist auch bei Telepolis erschienen.

Über den Autor: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

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