Bröckelt die deutsche Hegemonie in Europa?
Seite 2: Der wirtschaftspolitische Konflikt
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Vier Zitate aus dem oben schon erwähnten Text der Kommission mögen die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Kommission umreißen (die Zitate folgen nicht der Reihenfolge des Textes).
Die aktuelle Situation ist in mindestens zweierlei Hinsicht suboptimal. Erstens würde die vollständige Umsetzung der in den länderspezifischen Empfehlungen des Rates enthaltenen haushaltspolitischen Vorgaben in Anbetracht der jüngsten Wirtschafts- und Haushaltsdaten in der Summe dazu führen, dass der Fiskalkurs für den Euroraum 2017 und 2018 insgesamt leicht restriktiv wäre, während die Wirtschaftslage unter den gegenwärtigen Umständen vielmehr eine expansive Finanzpolitik zu erfordern scheint.
Hin zu einem positiven fiskalischen Kurs für das Eurowährungsgebiet
Die Rede von einem "restriktiven" und "expansiven Fiskalkurs", der je nach "Wirtschaftslage" verfolgt werden sollte, ist auch unter dem Namen "diskretionäre (antizyklische) Finanzpolitik" bekannt und bedeutet eine 100%ige Abkehr von den alten Grundsätzen des Monetarismus, unter denen der Euro Anfang der 1990er Jahre gegründet wurde.
Eine diskretionäre Finanzpolitik, die je nach den Umständen mal so und mal so ausfällt, kennt eigentlich nur der Keynesianismus, der neoklassischen Ökonomie ist sie fremd. "Die Fiskalpolitik ist die finanzpolitische Umsetzung der keynesianischen Wirtschaftstheorie", heißt es lapidar in Gablers Wirtschaftslexikon. In diesem Buch von Michael Heine und Hansjörg Herr findet man eine ausführlichere Darstellung.
Die EU-Kommission bekennt sich also in diesem Text offen zu einer keynesianischen Wirtschaftspolitik. Offenbar haben die Erfahrungen der letzten 10 Jahre, insbesondere die große Finanzkrise, die sehr begrenzte Wirkung der expansiven Geldpolitik und der Schock des Brexit die Evidenz des Monetarismus recht gründlich untergraben, jedenfalls auf der Ebene der europäischen Institutionen.
Ist sie gut konzipiert, insbesondere in Kombination mit Reformen und Investitionsförderung, so kann eine aktivere Fiskalpolitik heute in der kurzen Frist zu einem schnelleren Rückgang der Arbeitslosigkeit, in der mittleren Frist aber auch zur einer Hebung des (Potenzial-)Wachstums im Euroraum beitragen.
Hin zu einem positiven fiskalischen Kurs für das Eurowährungsgebiet
Mit diesen unscheinbaren Sätzen verabschiedet sich die Kommission endgültig von der Neoklassik. Im Rahmen der neoklassischen ökonomischen Metaphysik kann eine aktive Fiskalpolitik unter keinen Umständen etwas Gutes bewirken, sie kann vielleicht kurzfristig die Illusion eine Verbesserung erzeugen, die aber auf längere Frist teuer erkauft wird. Dass eine aktive Finanzpolitik zu einer "Hebung des (Potenzial-)Wachstums" führt, ist Keneysianismus pur.
Der neue Keynesianismus der Kommission bleibt jedoch (noch?) eingezwängt in die restriktiven Vorgaben des Stabilitätspaktes. Es soll für die Überschussländer gelten, die Defizitländer bleiben erst einmal unter dem Diktat der Austerität, jedoch deutet die Kommission auch hier erste Lockerungen an:
Zweitens verbergen sich hinter der gegenwärtigen fiskalischen Gesamtausrichtung sehr große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, was aus der Euroraum-Perspektive ökonomisch wenig Sinn macht. Diese Situation lässt sich als vielsagendes Paradoxon zusammenfassen: Die Länder, die keinen finanzpolitischen Spielraum haben, wollen ihn nutzen; diejenigen, die finanzpolitischen Spielraum haben, wollen ihn nicht nutzen. Damit der Euroraum als Ganzes nicht Gefahr läuft, in ein "Lose-lose"-Szenario zu geraten, ist ein kollektiverer Ansatz geboten.
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Die Worte "ökonomisch wenig Sinn", "vielsagendes Paradoxon" und "Lose-lose-Szenario" sind deutliches Indiz, dass die Kommission mit den restriktiven Vorgaben des Stabilitätspaktes nicht sehr glücklich ist. Und tatsächlich ist die Kommission bei der Überwachung der Verschuldungsgrenzen in letzter Zeit eher lax. Die FAZ, offenkundig von der neuen Kommission nicht sehr amüsiert, sieht in der neuen politischen Richtung einen "Schritt Richtung endgültiger Selbstdemontage" und schreibt von "bombastischen Floskeln".
Damit wird die Macht der Kommission unterschätzt. Erinnert man sich an die Sturheit der Kommission bei der Durchsetzung ihrer Vorhaben, könnte der Schwenk der Kommission Richtung Keynesianismus noch manche Überraschung bereithalten.
Da die Europäische Zentralbank (EZB) bereits ausgiebig von ihren geldpolitischen Instrumenten Gebrauch macht, wird weithin anerkannt, dass die Geldpolitik die Last der makroökonomischen Stabilisierung nicht allein tragen kann und eine verantwortungsvolle, wachstumsfreundliche Fiskalpolitik bei der Stützung des Aufschwungs im Euroraum eine größere Rolle spielen muss. Dieses Anliegen wird von der Weltgemeinschaft geteilt: Auf ihren jüngsten Gipfeltreffen bekräftigten die G20 die Verpflichtung ihrer Mitglieder auf eine dreigleisige Wachstumsstrategie und erklärten sich in ihrem Kommuniqué vom September 2016 "entschlossen, alle Instrumente - geld-, fiskal- und strukturpolitischer Art - einzeln und gemeinsam zu nutzen, um unser Ziel eines starken, nachhaltigen, ausgewogenen und integrativen Wachstums zu erreichen".
Hin zu einem positiven fiskalischen Kurs für das Eurowährungsgebiet
Den Hinweis auf die EZB kann man so verstehen, dass die Kommission bei ihrem Schwenk der Politik die Rückendeckung der Europäische Zentralbank genießt. Und tatsächlich finden sich seit einiger Zeit in fast allen Erklärungen der EZB der Hinweis, dass die Fiskalpolitik die Geldpolitik aktiv unterstützen sollte, wenn auch der Hinweis nicht fehlt, dass dies selbstverständlich im Rahmen der geltenden Regeln stattfinden soll, so etwa auf der Pressekonferenz der EZB vom 21. Januar 2016
Die Finanzpolitik sollte die wirtschaftliche Erholung stützen, ohne dass dabei gegen Fiskalregeln der EU verstoßen wird. Eine vollständige und einheitliche Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts ist unerlässlich, um das Vertrauen in den finanzpolitischen Rahmen zu erhalten. Gleichzeitig sollten alle Länder eine wachstumsfreundlichere Ausgestaltung ihrer finanzpolitischen Maßnahmen anstreben.
EZB
Der Hinweis auf das Gipfeltreffen der G20 im Text der Kommission enthält eine deutliche Positionsbestimmung. Auf dem letzten Gipfel der G20 stritten Wolfgang Schäuble und der US-Finanzminister Jack Lew über die Grundsätze der Wirtschaftspolitik.
Seit Jahren ist es der gleiche Streit, auf dem G20-Gipfel wiederholt er sich nun erneut: US-Finanzminister Jack Lew fordert ein globales Konjunkturpaket, gerade Länder mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen wie Deutschland sollen mehr für das Weltwirtschaftswachstum tun. Wolfgang Schäuble wiederholt, was er zu der Forderung aus Washington immer sagt: Strukturreformen, nicht Ausgabenprogramme, seien nötig, um die globale Konjunktur wieder in Gang zu bringen.
Der Spiegel
Die Kommission schlägt sich also deutlich auf die Seite von Jack Lew und nimmt Position gegen Wolfgang Schäuble. Nicht verwunderlich dass Schäuble verärgert ist. Er sieht seine Felle in Europa wegschwimmen.
Die Kommission fasst ihre Vorstellungen in eine handliche Grafik, die deutlich markiert wie stark sie sich von den Vorstellungen Schäubles entfernt: