Bröckelt die deutsche Hegemonie in Europa?

Seite 3: Der Verfassungskonflikt

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Betrachtet man eng den Wortlaut des Stabilitätspaktes hat die Interpretation von Wolfgang Schäuble einiges für sich. Aufgabe der Kommission ist die Überwachung der Defizitkriterien - jedoch sind die europäischen Institutionen Meister darin, die Verträge, auch mit abenteuerlichen juristischen Spitzfindigkeiten, in ihren Sinne auszulegen - und bisher haben sie dabei immer obsiegt und eine stetige Landnahme verfolgt.

Ein Geheimnis dieser schleichenden Entmachtung der Staaten liegt in der besonderen Rechtsnatur des EU-Rechtes. Das EU-Recht ist weit mehr als einfaches Völkerrecht, obwohl es auf Verträgen zwischen den Staaten beruht. Diese besondere Natur des EU-Rechtes beruht auf Grundsatzurteilen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), denen die Staaten nichts entgegen zu setzten haben, es sei denn, sie würden die EU-Verträge aufkündigen.

Dieter Grimm, Professor für öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin und an der Yale Law School, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht und anerkannter Kenner der Materie, beschreibt das Geheimnis der EU in einer sehr lesenswerten Studie so:

Finden die Mitgliedsstaaten, dass der Kommission die Deckung durch den Vertrag fehlt, bleibt ihnen nur die Nichtigkeitsklage beim EuGH. Der EuGH, der zwar personell allein von den einzelnen Mitgliedstaaten besetzt wird, ist ihnen gegenüber jedoch aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit und begünstigt durch seine juristische Professionalität bei einem integrationsfreundlichen Selbstverständnis am weitesten verselbständigt. Erst durch seine Rechtsprechung ist es zur unmittelbaren Anwendbarkeit der ursprünglich als Richtlinien für die Rechtsetzung gedachten vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten und zur Vorrang des Gemeinschaftsrechtes vor dem nationalen Recht einschließlich der nationalen Verfassungen gekommen, ohne welche die EU eine supranationale Organisation unter vielen geblieben wäre. Auf diesem Feld erzielt die Verselbständigung europäischer Entscheidungsverfahren ihren höchsten Grad und hier spitzt sich das Demokratieproblem besonders zu. Der EuGH ist freier als jedes nationale Gericht.

Dieter Grimm, Europa ja - aber welches? München 2016

Übersetzt aus den höflichen juristischen Formulierungen bedeutet dies:

  • Der EuGH wird der Kommission niemals in den Rücken fallen, jedenfalls nicht, wenn die Kommission Anstrengungen unternimmt die Kompetenz der EU auszuweiten.
  • Auch wenn die Kommission sich auf Kollisionskurs gegenüber nationalen Verfassungen begibt (schwarze Null), kann sie mit Unterstützung durch den EuGH rechnen.
  • Die Chancen der Mitgliedstaaten, sich gegen die Kommission zu wehren, gehen gegen Null.
  • Appelle an die Demokratie oder laute Rufe "Kompetenzüberschreitung!" und "Verstoß gegen das europäische Recht!" sind ziemlich nutzlos, der EuGH wird schon scholastische Kniffe im Sinne einer stetig enger werdenden Integration finden.

In einer der Stellungnahmen der Kommission gibt es einen deutlichen Hinweis auf eine mögliche zukünftige juristische Letztbegründung für den neuen wirtschaftspolitischen Kurs der Kommission:

Der EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici sagte vor den Medien, mit dieser Empfehlung nutze die Kommission eine bestehende Kompetenz, die sie bisher nicht wahrgenommen habe. Sie nehme gewissermassen die Rolle eines "kollektiven Finanzministers" für die Euro-Zone wahr. Dies sei ein wichtiger Schritt zur Vertiefung der Währungsunion.

NZZ

Es ist ein beliebter scholastischer Trick, die neueste Volte als schon immer bestehend, als "bestehende Kompetenz, die bisher nicht wahrgenommen wurde", auszugeben. Eine juristisch schlüssige Argumentation dagegen wird schwer fallen, jedenfalls bei der Voreingenommenheit des EuGH. Sollte Wolfgang Schäuble tatsächlich den Verfassungskonflikt mit der Kommission wagen, sind seine Chancen wohl eher mau.