Bürgerwissenschaft und Wissenschaftsläden

Seite 4: Wissenschaft im Angebot: Die Initiative der Wissenschaftsläden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In den Analysen Alan Irwins ist der versuchte Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zutiefst problematisch und selten frei von Spannungen. Hier scheint eine beständige Kluft zwischen den Wissenschaftlern und den Bürgern zu bestehen und nach Ansicht Irwins scheint diese eher strukturell bedingt als eine Folge mangelnder Aktivitäten und Anstrengungen auf diesem Gebiet. Und dennoch gibt es Hoffnung. Alan Irwin zieht hierbei die Initiative der Wissenschaftsläden als ein „Idealtyp“ der Interaktion zwischen Bürgerschaft und Wissenschaft in Erwägung.26

Das Konzept dieser wissenschaftlichen Vermittlungsstellen für Bürgerinnen und Bürger geht auf die französische Initiative der Rechtsläden Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Hier boten Juristen ehrenamtlich soziale und rechtliche Information und Beratung vor allen in Arbeitervierteln an. Im Jahre 1908 tauchte eine Version für den Wissenschaftsbereich dieses Modells an der Universität Delft in den Niederlanden auf. Dieses Konzept nahm in den 1970er Jahren, wiederum in den Niederlanden, dieses Mal als Initiative der so genannten Wetenschapswinkel (Wissenschaftsläden) firmierend, neuen Aufschwung und begann sich von dort aus in weitere europäische Länder zu verbreiten. Inzwischen gibt es über 60 Wissenschaftsläden in Europa, hauptsächlich in den Niederlanden, Deutschland, Österreich, Großbritannien und Frankreich. In Deutschland finden sich hierbei etwa Wissenschaftsläden in Berlin und Bonn, in Österreich in Graz, Innsbruck, Salzburg und Wien sowie in Zürich die Projektplattform Seed Sustainability, die transdisziplinäre studentische Nachhaltigkeitsforschung betreut und initiiert.27 Die Initiative der Wissenschaftsläden wird von der Europäischen Kommission gefördert.

Die Wissenschaftsläden stellen in erster Linie den Versuch dar, den Bürgern für ihre Belange erforderliche Informationen, technische Assistenz oder wissenschaftliche Expertise kostenfrei zugänglich zu machen. Der genaue Ablauf und die diversen Ausprägungen unterscheiden sich zwischen den einzelnen Wissenschaftsläden. Oftmals sind sie Bestandteil von Universitäten und Forschungseinrichtungen, manche von ihnen arbeiten jedoch auch vollkommen autonom. Sie gleichen sich generell aber darin, dass ihre „Kunden“ keine Mittel für die Finanzierung von Auftragsforschung haben. Die Benutzer dürfen keine kommerziellen Interessen mit ihrem Ersuchen verbinden und vor allem sollte die Anfrage zu einer praktischen Anwendung oder Umsetzung der Ergebnisse durch die Bürger führen.

Hierzu könnte zum Beispiel gehören, dass besorgte Eltern einen Ausschlag bei Kindern festgestellt haben, die auf einem bestimmten Spielplatz gespielt haben und nun von dem nächsten Wissenschaftsladen die dafür befähigten Experten vermittelt bekommen wollen, die feststellen können, ob der Spielplatz mit Gesundheitsgefährdenden Stoffen belastet ist oder nicht. Der Wissenschaftsladen kontaktiert dann zum Beispiel Vertreter der dafür zuständigen Disziplinen, die wiederum beispielsweise Messarbeiten an ihre Studenten weitergeben können. So gewinnen die Studenten aus dem Alltagsleben gegriffene praktische Erfahrungen im Lauf ihres Studiums und die Experten und Bürger erhalten die Messwerte, die sie für stichhaltige Schlussfolgerungen und ihr weiteres Vorgehen benötigen. Ein derartiges Gutachten professioneller Wissenschaftler rückt die Bürger in eine weitaus sicherere Position, um bei den dafür zuständigen offiziellen Stellen eine Verbesserung ihrer Situation zu erwirken und staatliches oder kommunales Handeln einzufordern.

Die qualitative Besonderheit dieser Initiative ist, dass sie bei der Bürgerschaft ansetzt und ihre Relevanzen und Belange ins Zentrum aller Aktivitäten stellt. Bürger haben ein konkretes Problem und konsultieren den Wissenschaftsladen, der bei der pragmatischen Lösung des tatsächlichen Problems, das ihren eigenen Alltag betrifft, helfen soll. Wissenserzeugende Institutionen, wie etwa Universitäten oder Forschungseinrichtungen gehen hierbei funktionierende Beziehungen beispielsweise mit Bürgerinitiativen ein, die Antworten auf für sie drängende Fragen brauchen.

Dabei lässt sich im Umkehrschluss auch Interessantes über die Wissenschaften selbst erfahren. So stellt Alan Irwin fest, dass für die für die Bürger relevanten Probleme kaum eine einzelne wissenschaftliche Disziplin zuständig ist, sondern die Probleme, die die Bürgerschaft umtreiben oft komplex und vielgestaltig sind und neben einer rein naturwissenschaftlichen Seite ebenso oft soziale oder politische Aspekte, aber auch Belange, die die Gesetzgebung betreffen, beinhalten. Aus dieser Sicht sind die Trennungen der etablierten wissenschaftlichen Disziplinen in wissenschaftlichen oder akademischen Institutionen künstlich, da sie wenig mit den tatsächlichen Problemen, die den Bürgerinnen und Bürgern in ihrem Alltag begegnen, zu tun haben. Oder in den Worten der Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny: „Jedes Problem der Alltagswelt muss in ein wissenschaftliches Problem übersetzt werden, wenn es überhaupt in den Forschungsprozess eintreten soll.“ Aufgabe der Wissenschaftsläden ist es nun diesen Übersetzungsprozess in die Wege zu leiten.

Ein Großteil der Bürgerschaft im Allgemeinen und betroffene Bürgerinitiativen im Besonderen findet die Wissenschaften oft schwer zugänglich und betrachtet sie als nicht relevant für ihr eigenes Leben. Das Angebot der Wissenschaftsläden beschränkt sich in der Regel nicht nur auf naturwissenschaftliche Unterstützung. Je nach Ausrichtung bieten die Wissenschaftsläden auch sozialwissenschaftlichen Beistand an oder vermitteln Praktiker und Fachleute aus der Architektur, dem Betriebswirtschaftswesen oder den Geisteswissenschaften, wie etwa der Kunstgeschichte. Irwin untersuchte beispielsweise 49 erfolgreich abgeschlossene Anfragen beim Wissenschaftsladen in Belfast in Nord Irland und stellte fest, dass 20 davon im weitesten Sinne in den Bereich der Sozialwissenschaften fallen, sechs den Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaft zuzurechnen sind, sechs weitere mit Bauen und Häusern zu tun haben, jedoch nur in vier Fällen um konkrete naturwissenschaftliche Ratschläge ersucht wurde, vier weitere ließen sich dem Bereich Technologie im weitesten Sinne zuordnen, drei entfielen auf den Bereich der Geisteswissenschaften und sechs weitere konnten keinem der genannten Bereich zugeordnet werden.

Die transdisziplinäre Natur der real existierenden Probleme, die die Bürgerschaft betreffen stellen die Wissenschaftsläden nicht selten vor die Schwierigkeit, Praktiker und Fachleute zu finden, die sich für das relevante Problem zuständig fühlen. Des Weiteren benötigt die Initiative hoch engagierte Mitarbeiter und Experten, denn der Arbeitsaufwand ist oft beträchtlich und die Wissenschaftler handeln in Eigeninitiative und werden für ihre Leistungen nicht bezahlt. Zudem erkennt der offizielle Wissenschaftsbetrieb die im Rahmen der Anfragen an Wissenschaftsläden gewonnenen Erkenntnisse oft nicht als wissenschaftlich an. Berichte und Ergebnisse, die im Rahmen der Wissenschaftsläden publiziert werden, gelten oft als „graue Literatur“ und nicht als vollwertige, wissenschaftlich anerkannte Ergebnisse, die vor allem Nachwuchswissenschaftler deshalb nicht in ihrem professionellen Weiterkommen geltend machen können.

Dies wird als weiteres Indiz gewertet, dass wissenschaftliche Forschung, die bei der Alltagsrelevanz konkreter Probleme ansetzt, von den abgetrennten wissenschaftlichen Disziplinen nur selten an- und aufgenommen werden wird und so die Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen gerade in diesem Zusammenhang oft eher hinderlich als erfolgreich ist. Hier setzt man jedoch auf die Möglichkeiten der technischen Vernetzung und hofft, dass insbesondere über das Internet die Erkenntnisse und Ergebnisse, die durch Initiativen der Wissenschaftsläden zutage gefördert wurden, archiviert, ausgetauscht und abgerufen werden können. Leydesdorff und Ward28 ist deshalb zuzustimmen, wenn sie empfehlen, Initiativen wie die der Wissenschaftsläden, die zwischen Universitäten, Forschung und Öffentlichkeit vermitteln, nicht aus den Augen zu verlieren, wenn man vom Zugang der Bürgerschaft zu den Wissenschaften profitieren will:

If the university would like to profit from societal input both at the level of higher education and at the level of research, commonalities in the interfaces of research and higher education with the university environment should be further developed.

Denn aus systemtheoretischer Sicht kann die Berücksichtung und Rückkopplung der Relevanz der Wissenschaften aus Sicht der Bürger in ihrem Alltag den Universitäten selbst zu sozialer Integration und Legitimation verhelfen und ihnen dadurch den oft beanspruchten und durch Industrie- und anderen Drittmittelverpflichtungen in Atemnot geratenen akademischen Freiraum gewähren:

From the perspective of the institutions, the science shops operate at interfaces that are not continuously needed. However, these interfaces may be crucial for the development of a knowledge-based society from a system’s perspective. The translation of clients’ concerns and demands into the system and the feedback from research and higher education strengthen the social integration of universities and thus provide legitimation for the academic function. This collaboration deeply involves public audiences because their own substantive demands are taken seriously. Academic freedom can thus be appreciated more fully as a societal resource.

Unzählige Steuerzahler, die Forschung und Wissenschaft an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen mitbezahlen, werden zudem nie in den direkten Genuss eines Hochschulstudiums kommen. Die Initiative der Wissenschaftsläden könnte dazu beitragen, auch diesen Bürgerinnen und Bürgern einen Zugang zur Nutzung von Wissenschaft und Forschung für ihre eigenen Belange zu sichern.