Bundesregierung will von der Colonia Dignidad nichts wissen

Seit der Flucht mehrerer Mitglieder sorgt die Sektensiedlung in Chile wieder für Schlagzeilen. Berlin gibt Unkenntnis vor und finanziert die Sekte dennoch weiter

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Die schweren Menschenrechtsverletzungen in der Deutschensiedlung Colonia Dignidad in Chile werden zunehmend juristisch aufgearbeitet. Nach rechtskräftigen Urteilen gegen ehemalige Funktionäre wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch, Waffenhandel und Mord hat das Berufungsgericht in der Hauptstadt Santiago de Chile nun erstmals einen Strafprozess wegen systematischer Folterungen in der Siedlung eröffnet.

Angeklagt sind der deutsche Staatsbürger Gerhard Mücke sowie der chilenische Geheimdienstler Fernando Gómez Segovia, berichtet das Berliner Forschungszentrum FDCL. Sie sollen wegen der wochenlangen Folter der Pädagogin Adriana Bórquez nach dem Militärputsch 1973 zur Rechenschaft gezogen werden. Indes hat auch die Staatsanwaltschaft in Krefeld Ermittlungen gegen ehemalige Funktionäre der Siedlung aufgenommen, nachdem der von Interpol gesuchte Sektenarzt Hartmut Hopp in der niederrheinischen Stadt aufgetaucht ist.

Opfer des Terrorregimes in der Colonia Dignidad sowie Menschenrechtsorganisationen in Deutschland und Chile hoffen nun darauf, dass die Geschichte öffentlich aufgearbeitet und Recht durchgesetzt wird. In Deutschland war die Chance dazu wiederholt verpasst worden.

Colonia Dignidad

Die Colonia Dignidad war 1961 von dem im vergangenen Jahr verstorbenen Deutschen Paul Schäfer gegründet worden. Der Anhänger evangelikaler Strömungen war in das südamerikanische Land geflohen, nachdem die deutsche Staatsanwaltschaft gegen ihn schon damals wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen ermittelte. Wegen entsprechender Vergehen war er gut zehn Jahre zuvor bereits als Jugendbetreuer von der evangelischen Kirche gekündigt worden.

Die Colonia Dignidad - ein bis zu 30.000 Hektar großes Areal in Zentralchile - diente Schäfer noch bis vor wenigen Jahren als Zentrale für sein Sekten- und Wirtschaftsnetzwerk, das auch über politische Kontakte verfügte.

Parallel zur Etablierung der Colonia Dignidad nahm Schäfer zu rechtsextremen Gruppierungen in Chile Kontakt auf, ehemalige Nazis - einschließlich ranghoher Kriegsverbrecher - gingen in der Siedlung ein und aus. Die politischen Kontakte führten nach dem Militärputsch gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende dazu, dass die Colonia Dignidad als Folter- und Vernichtungslager für Widerstandskämpfer genutzt wurde. Auch diese Verbrechen stehen nun in Chile vor Gericht und beschäftigen zudem deutsche Ermittlungsbehörden.

Bundesregierung: Kein Kontakt, keine Gespräche, kein Ersuchen

Beobachter werfen der Bundesregierung angesichts der Versuche einer Aufarbeitung der Geschichte Passivität vor. Spätestens seit sich Hartmut Hopp, der Sektenarzt und langjährige Vertraute von Colonia-Dignidad-Gründer Paul Schäfer, Anfang Mai in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über Argentinien und Brasilien nach Deutschland absetzte, ist der Fall auch in Deutschland bekannt.

Die Linksfraktion im Bundestag ließ der Bundesregierung nach der Flucht Hopps einen umfangreichen Fragenkatalog zukommen, der in Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen erarbeitet worden war. Die ersten Link auf ./35502_1.pdf nach 10 Wochen fallen ernüchternd aus. Das Auswärtige Amt teilt darin lediglich mit, dass sich der in Chile wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauchs verurteilte Hopp "nach jüngsten Erkenntnissen in der Bundesrepublik Deutschland" aufhält. Mehr Informationen bringt aber schon eine einfache Internetrecherche. In Krefeld, wo Hopp und seine Frau nach der Flucht untergekommen sind, beschäftigt sich die Presse seither fast täglich mit dem Fall. In ihrer Antwort will die Bundesregierung davon nichts wissen. Es gebe zu dem Fall keine Kontakte, keine Gespräche und auch kein Ersuchen chilenischer Behörden.

Auch bei anderen heiklen Punkten versteckt sich die Bundesregierung hinter vermeintlicher Unkenntnis. Es sei ihr nicht bekannt, heißt es in der Antwort von FDP-Staatssekretärin Cornelia Pieper, in welchem Ausmaß die Führung der Colonia Dignidad in Waffenhandel und Waffenschmuggel verstrickt war. "Eine dreiste Behauptung", entgegnet der Bundestagsabgeordnete Jan Korte, dessen Büro die Anfrage eingereicht hatte. Immerhin habe mit dem ehemaligen SS-Mitglied und späteren BND-Mann Gerhard Mertins ein direkter Kontakt zwischen der Sektensiedlung und westdeutschen Stellen bestanden. Die Bundesregierung "hofft offenbar, das Thema aussitzen zu können", sagte Korte gegenüber Telepolis.

Entwicklungshilfe für mutmaßliche Verbrecher

Handlungsfreudiger ist man in Berlin, wenn es um aktuelle Kontakte zu der Sektensiedlung geht. In der Antwort des Auswärtigen Amtes auf die Bundestagsanfrage wird die "fortbestehende Anwesenheit einiger ehemaliger Führungsmitglieder der Colonia Dignidad" auf dem Gelände der Siedlung bestätigt, die sich nach dem Tod des Gründers Paul Schäfer in "Villa Baviera" (Bayrisches Dorf) umbenannt hat.

Auch wenn die Bundesregierung die Anwesenheit mutmaßlicher Kinderschänder, Folterer und Mörder als "sehr problematisch für einen glaubwürdigen Neuanfang" bewertet, unterstützt sie die Sektenstrukturen bis heute finanziell. Nach der Erhöhung eines entsprechenden Haushaltstitels von 224.000 Euro auf 245.000 Euro im vergangenen Jahr wurden die Bundesmittel für die umbenannte Colonia Dignidad für 2012 zwar auf 150.000 Euro reduziert. Dennoch behält sich Berlin die Entsendung von Experten der Entwicklungshilfeagentur GIZ und des Senior Experten Service nach Chile vor, um die wirtschaftlichen Tätigkeiten der Deutschensiedlung zu unterstützen.

Justiz hat auch in Deutschland Handhabe

Nach der Flucht Hartmut Hopps nach Deutschland hatten sich die hiesigen Justizbehörden zunächst auf die Position zurückgezogen, dass das ihm vorgeworfene Delikt des Kindesmissbrauchs nach deutschem Recht nach zehn Jahren verjährt. Dem trat nun der Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck entgegen, der dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) als Generalsekretär vorsteht. Entgegen der These eines angeblich fehlenden Grundes habe die Staatsanwaltschaft Krefeld ein Verfahren eröffnet, nachdem das Medieninteresse zunahm, so Kaleck. Zum anderen habe derart pauschal eine Ermittlung gar nicht abgelehnt werden können, weil gemeinschaftlicher Missbrauch, wie er in der Colonia Dignidad über Jahre hinweg begangen wurde, auch nach deutschem Recht erst nach zwei Jahrzehnten verjährt. Und schließlich gehe es im Fall der Deutschensiedlung in Chile unter anderem um Mord - und derartige Delikte müssten auch in Deutschland verfolgt werden, so Kaleck im Deutschlandradio.

Der komplizierte und facettenreiche Fall der Colonia Dignidad wird weiter die Medien und die Justizinstitutionen in Deutschland und Chile beschäftigen. Ob die zahlreichen Verbrechen aufgeklärt und die für sie Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, hängt dabei zum erheblichen Maße von der deutschen Bundesregierung ab.

"Uns macht halt auch misstrauisch, dass uns in die Akten des Auswärtigen Amtes jahrelang keine Einsicht gewährt wurde", sagt Kaleck. Ein mit dem Fall betrauter Wissenschaftler musste vor dem Berliner Verwaltungsgericht zwei Klageverfahren gegen das Auswärtige Amt anstrengen. Vertreter des Ministeriums argumentierten dabei mit gebotenem Geheimnisschutz: Eine Veröffentlichung der Akten über die ehemals westdeutschen Verbindungen zur Colonia Dignidad könnten die bilateralen Beziehungen zu Chile nachhaltig beschädigen. Bislang sind von Bundesnachrichtendienst 22 Seiten zu den jahrzehntelangen Verbindungen veröffentlich worden, das Außenamt stellte lediglich Akten zur Verfügung, die über 30 Jahre alt sind. Die Frage ist also, ob die Bundesregierung nichts über die Colonia Dignidad weiß - oder nicht wissen will.