Bundestagswahl: Widerspruch heißt einfach "Nein"

Seite 2: Versprechen wie von prügelnden Ehegatten

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Jedes ernsthafte Versprechen für die Zukunft müsste daher mit einer fetten Entschuldigung beginnen, warum es das entsprechende Gesetz nicht schon längst gibt, es aber in der nächsten Legislatur ganz bestimmt kommen wird. Wer vor Liebe verblendet ist, mag dem prügelnden Ex vorübergehend das leere Versprechen abnehmen, er habe sich geändert, künftig werde alles anders. Die meisten Wahlberechtigten wollen aber mit Politikern weder lustvoll ins Bett noch vernunftgeleitet gemeinsame Kinder großziehen - ihre Bereitschaft zum Vertrauensvorschuss ist gering, zumal wenn das schon so oft schief gegangen ist..

Politiker müssten ihren Sinneswandel nachvollziehbar erklären und sich in Demut üben angesichts ihrer Fehler und Fehleinschätzungen in der Vergangenheit. Aber Demut und Fehlereingeständnis bei Politikern? - gibt's nur für wenige Minuten bei einer Rücktrittserklärung.

Gerechtigkeit, Zukunft, gutes Leben, gute Arbeit, Familienförderung, Bildung - all die Schlagworte standen auch bei den letzten Wahlen auf den Plakaten und sie werden auch 2021 wieder dort stehen. Denn auch hier hilft die Retrospektive, und wer's kurz machen möchte überfliege die alten Seidl-Texte: auch 2013 und 2009 echauffierte er sich über die Wahlplakate.

Was also sollte ein "spannender Wahlkampf" besser machen? Er würde verlangen, dass die Bewerber noch mehr versprechen, radikale Veränderungen, wirkliche Gestaltung statt Verwaltung: echte Freiheit (und Eigenverantwortlichkeit) statt Bürokratie etwa, das bedingungslose Grundeinkommen, Volksabstimmungen, die Abschaffung privater und gesetzlicher Krankenkassen mit freier ärztlicher Versorgung für alle, das Ende tierquälerischer Massentierhaltung - ja, da gäbe es vieles. Aber, siehe oben: wie verstrahlt müssten wir sein, an die Realisierung der Versprechen zu glauben?

"An ihren Taten sollt ihr sie erkennen"

Andere Bewerbungen im Leben fußen auch nicht auf dem Versprechen von Luftschlössern, sondern auf Zeugnissen, Arbeitsergebnissen, gutem Leumund, Stichwort: "An ihren Taten sollt ihr sie erkennen." Die Wahlkampfzeit ist eine irrsinnige Erfindung der Parteien selbst, die eben nicht mit ihren bisherigen Leistungen, sondern mit Versprechungen ins Blaue hinein punkten wollen. Man könnte den Wahlkampf auch abschaffen oder wenigstens stark verkürzen - zum Beispiel, indem der Termin für Neuwahlen nicht festgelegt, sondern kurzfristig ausgelost wird (vgl. 5 Jahre Bundestag? - Eine schlechte Idee).

Das würde vor allem Journalisten ein attraktives Spielfeld nehmen. In diesem Jahr etwa dürfen sie schon seit Januar über einen "Schulz-Effekt" philosophieren, der mal gigantisch groß, dann wieder nebulös verschwunden ist und aktuell zurück an die Arbeit geschrieben wird. Wie entsetzlich wäre es jedoch, wenn es den Schulz-Effekt wirklich gäbe! Wenn ein einzelner "neuer" (aber keineswegs "frischer") Kopf die SPD-Politik grundlegend verändern könnte? Was müsste das für ein neuer Super-Führer sein? Schulz war bei einigen Stimmbürgern kurz mal Gesprächsthema - mehr nicht.

Im übrigen sollten sich die enttäuschten Berufszuschauer des Politikspektakels, die einen spannenden Wahlkampf, ein echtes "Rennen" fordern, klar machen: Je knapper eine Wahlentscheidung, um so ungerechter ist sie - weil zwangsläufig der unterlegene Teil größer ist als bei einem deutlicheren Ergebnis. (Die Alternative wäre natürlich eine Allparteienregierung, wie es die Schweizer seit Jahr und Tag machen.)

Je knapper ein Wahlausgang, je spannender ein "Kopf an Kopf Rennen", um so zufälliger und um so weniger demokratisch legitimiert ist das Ergebnis.

Dass es einen Monat vor der Bundestagswahl so viele noch Unentschlossene geben soll wie in den letzten 20 Jahren nicht mehr, ist daher alles andere als spannend. Wenn ich mich nicht entscheiden kann, auf welche Partys ich gehe, habe ich entweder auf keine der angebotenen Partys wirklich Lust oder ich erwarte so Ähnliches, dass es schlicht egal ist. Zumindest im ersten Fall sollte ich den Partybesuch dann ganz bleiben lassen und was anderes tun. Bei den Wahlen neigen viele Unentschlossene noch dazu, im letzten Moment aus einem Pflichtgefühl heraus doch ein oder zwei Kreuze auf den Stimmzettel zu machen. Das hat wenig mit Demokratie, um so mehr mit Untertänigkeit zu tun. Politiker sagen: Geht wählen. Brave Bürger befolgen das.

"Der radikale Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen", den Claudius Seidl in der Wahlwerbung sucht, ist dort nicht zu finden, weil es ihn nicht gibt. Ob es nun "Borniertheit" ist, oder der letzte politische Anstand, den Bürger nicht völlig zu verschleißen, mag ein jeder selbst entscheiden. Etwa ein Drittel der Wahlberechtigten verweigerte 2013 jeder Partei die Zustimmung, enthielt sich oder wählte ungültig - wegen der Politik in der Vergangenheit und trotz der Versprechungen für die Zukunft.