Chancen verteilen, Vermögen behalten

Soziale Gerechtigkeit ist zum Dauerthema der deutschen Politik geworden. Doch die Geister scheiden sich nicht nur an der Umsetzung, sondern schon an der Definition des seltsamen Phänomens

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Wenn Jürgen Rüttgers der CDU eine wochenlange Diskussion über die Erhöhung des Arbeitslosengeldes aufdrängen kann (Sozialpolitik als profilbildende Maßnahme), konservative Kreise für die Beteiligung von Arbeitnehmern an Unternehmensgewinnen plädieren und die unerbittlichsten Verfechter von Studiengebühren sozialverträgliche Regelungen einfordern, dann hat sich in Deutschland einiges geändert. Nicht unbedingt substanziell, doch im Hinblick auf die mediale Außenwirkung erscheint es im Moment wenig opportun, Erwerbslose, Hartz-IV-Empfänger oder Migranten in der jahrelang eingeübten Weise als Sozialschmarotzer zu verunglimpfen und ihnen selbst die Schuld an ihrer prekären Situation zu geben.

Mit politischem Kalkül hat die neue Nachsicht mehr zu tun als mit dem gerade zurückliegenden Weihnachtsfest oder christlicher Nächstenliebe, auch wenn Benedikt XVI. rückblickend als eine Art Trendsetter gelten darf. Immerhin nahm der Papst seine erste Enzyklika „Deus caritas est“ (http://www.oecumene.radiovaticana.org/ted/articolo.asp?c=63541) schon Anfang des vergangenen Jahres zum Anlass, die katholische Soziallehre aufzufrischen. Das Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung müsse darin bestehen, „jedem seinen Anteil an den Gütern der Gemeinschaft zu gewährleisten“, meinte Benedikt und nahm dabei auch seine Kirche – offenbar stellvertretend für andere Religionsgemeinschaften – in die Pflicht.

Das Erbauen einer gerechten Gesellschafts- und Staatsordnung, durch die jedem das Seine wird, ist eine grundlegende Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muss. Da es sich um eine politische Aufgabe handelt, kann dies nicht der unmittelbare Auftrag der Kirche sein. Da es aber zugleich eine grundlegende menschliche Aufgabe ist, hat die Kirche die Pflicht, auf ihre Weise durch die Reinigung der Vernunft und durch ethische Bildung ihren Beitrag zu leisten, damit die Ansprüche der Gerechtigkeit einsichtig und politisch durchsetzbar werden. Benedikt XVI.

Gerechtigkeit als Frage der praktischen Vernunft und politischer Leitwert

Mit zwei entscheidenden Definitionen tat sich allerdings auch der Papst schwer. „Wie ist Gerechtigkeit hier und jetzt zu verwirklichen?“ und vor allem “Was ist Gerechtigkeit?“ seien Fragen der praktischen Vernunft, die ständig gereinigt werden müsse, um ihre „ethische Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht“ zu verhindern. Die Evangelische Kirche in Deutschland (http://www.ekd.de) hat das Thema Gerechtigkeit bereits in den 90er Jahren zum „politischen Leitwert“ erklärt und zur Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst aufgerufen. Doch was Gerechtigkeit überhaupt ist und wie sie hier und jetzt verwirklicht werden soll, bleibt auch für Luthers Nachfahren eine Fall-zu-Fall-Entscheidung, für welche die „praktische Politik“ die Verantwortung trägt.

Es gilt Verhältnisse anzustreben, in denen alle zu ihrem Recht kommen, in denen nicht die einen prassen und die anderen Not leiden. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist nichts allgemein Verschwommenes; es ist vielmehr Einstehen der Gemeinschaft für die Schwachen. Evangelische Kirche in Deutschland

Dass beide Kirchen nicht gewillt sind, öffentlich eine gesellschaftliche Gesamtperspektive einzunehmen oder zu entwerfen, unterscheidet sich wohltuend vom dogmatischen Vorgehen früherer Jahrzehnte, illustriert aber gleichzeitig ein zentrales Problem der aktuellen Auseinandersetzungen: Es gibt keinen common sense in der Frage der sozialen Gerechtigkeit, und derzeit ist nicht einmal eine Mehrheitsmeinung in Sicht. Die Diskussionsteilnehmer, die sich zwischen Talkshow und Stammtisch deutschlandweit in Szene setzen, hindert dieser Umstand freilich nicht daran, für ihre eigene Position Teil- oder Alleinvertretungsansprüche zu reklamieren.

Politiker auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit

Vor diesem Hintergrund erregte eine Allensbach-Studie der Bertelsmann Stiftung kurz vor Weihnachten besonderes Aufsehen (Tiefe Kluft zwischen Politikern und Bürgern). 384 der etwa 2.500 Parlamentarier des Deutschen Bundestages, des Europaparlaments und der einzelnen Landtage wurden im Oktober und November 2006 nach ihren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit befragt, und die repräsentative Auswertung ergab eine Reihe aufschlussreicher Ergebnisse.

Für 55 Prozent der Interviewten bedeutet soziale Gerechtigkeit soviel wie Chancen- und Teilhabegerechtigkeit, bei der jungen Politikergeneration (bis 35 Jahre) liegt der Wert sogar bei 65 Prozent. Alle Bürgerinnen und Bürger sollen vergleichbare Möglichkeiten haben, an Bildungsprozessen zu partizipieren, einen Arbeitsplatz zu bekommen oder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die soziale Absicherung durch staatliche Transferleistungen wird noch von 29 Prozent genannt, während Verteilungs- (15 Prozent) und Leistungsgerechtigkeit (14 Prozent) für die Parlamentarier nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Die Diskussion um abstruse Vorstandsgehälter, die Erosion der Mittelschicht und eine mögliche Spaltung der Gesellschaft ist an den Abgeordneten relativ spurlos vorübergegangen, weil eine klare Mehrheit von 60 Prozent die Überzeugung vertritt, dass Einkommen und Vermögen in Deutschland „im Großen und Ganzen“ schon jetzt gerecht verteilt sind. Demgegenüber sind lediglich 28 Prozent der Meinung, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht, während beachtliche 12 Prozent mit der Frage erst gar nichts anfangen können.

Naturgemäß gibt es in diesem Bereich erhebliche parteipolitische Unterschiede. Während sich die Abgeordneten beispielsweise ohne größere Schwierigkeiten darauf einigen könnten, die sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik stärker als bisher über Steuern zu finanzieren, ohne die Abgabenlast insgesamt zu erhöhen, scheiden sich die Geister an der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Dass diese hierzulande gerecht organisiert ist, glauben vor allem die Mitglieder von FDP (86 Prozent), CDU/CSU (83 Prozent) und mit Abstrichen auch noch die der SPD (50 Prozent). Bei den Grünen (14 Prozent) und in der Linkspartei/PDS (5 Prozent) ist man deutlich skeptischer.

Dieser Einschätzung entspricht die Haltung zur Entwicklung der vergangenen drei bis vier Jahre. In der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Bundesregierung haben 59 Prozent aller Abgeordneten immerhin einen Abbau sozialer Gerechtigkeit in Deutschland festgestellt. Sie setzen sich aus 100 Prozent der befragten Linken, 90 Prozent der Grünen und 67 Prozent der SPD-Mitglieder zusammen, während nur 43 Prozent der CDU/CSU-Abgeordneten und 39 Prozent der FDP-Vertreter einen Abwärtstrend bemerkt haben wollen.

Die deutsche Bevölkerung beurteilt die Lage allerdings grundlegend anders als der Durchschnitt ihrer Parlamentarier. Eine Umfrage im Februar 2006 ergab, dass nur 28 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die wirtschaftlichen Verhältnisse als „gerecht“ empfinden. 56 Prozent halten das genaue Gegenteil für richtig, 16 Prozent machen keine Angabe.

Die Bertelsmann-Stiftung hat aus diesen Zahlen interessante Schlussfolgerungen gezogen, die zu bestätigen scheinen, dass CDU und CSU im vergangenen Bundestagswahlkampf tatsächlich auch für die Vernachlässigung sozialer Themenfelder abgestraft wurden.

Damit entsprechen die Einschätzungen zur Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland bei den Parlamentariern von SPD, Grünen und der Linkspartei/PDS deutlich stärker dem Meinungsbild in der Bevölkerung, als bei den Mandatsträgern von CDU/CSU und FDP. Hier ist der Anteil derer, die die Verteilung in Deutschland für gerecht halten, fast dreimal so groß wie in der Bevölkerung.

Soziale Gerechtigkeit in Deutschland - Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter deutschen Parlamentariern

Anhänger contra Mandatsträger

Bemerkenswert erscheinen darüber hinaus die zum Teil eklatanten Meinungsunterschiede zwischen Anhängern und Mandatsträgern ein und derselben Partei.

Eine deutliche Differenz zwischen der Bevölkerungsmeinung und den Einschätzungen der Parlamentarier zeigt sich auch in den Einschätzungsunterschieden zwischen den Anhängern und Mandatsträgern der jeweiligen Parteien. Während bei den Anhängern der SPD der Anteil derjenigen, die eine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland sehen, mit 25 Prozent nur halb so groß ist wie der entsprechende Anteil bei den Parlamentariern, ist diese Differenz bei CDU/CSU und FDP noch ausgeprägter: Nur 38 Prozent der CDU/CSU-Anhänger (gegenüber 83 Prozent der CDU/CSU-Mandatsträger) und lediglich 32 Prozent der Anhänger der FDP (gegenüber 86 Prozent der FDP-Mandatsträger) halten die Verteilung in Deutschland für gerecht. Lediglich bei der Linkspartei/PDS sind die Differenzen zwischen Anhängern und Mandatsträgern gering: Nur 5 Prozent ihrer Anhänger und 5 Prozent ihrer Parlamentarier halten Besitz und Einkommen in Deutschland für gerecht verteilt. Als einzige Partei ist bei den Grünen der Anteil derer, die von einer gerechten Verteilung in Deutschland ausgehen, bei den Parlamentariern mit 14 Prozent deutlich geringer als bei den Anhängern, von denen jeder Vierte (25 Prozent) die Verteilung für gerecht hält.

Soziale Gerechtigkeit in Deutschland - Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter deutschen Parlamentariern

Die Zahlen der Unionsparteien machen deutlich, dass CDU und CSU außerhalb ihrer Parteigrenzen, aber auch in den eigenen Reihen ein veritables Problem haben. Sie werden nicht oder nicht mehr als Sachwalter sozialer Belange wahrgenommen, und die große Mehrheit ihrer Abgeordneten ist für das Thema kaum ansatzweise sensibilisiert. Die unwirschen Reaktionen, welche die Vorstöße des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers zur Erhöhung des Arbeitslosengeldes I oder seines thüringischen Amtskollegen Dieter Althaus hinsichtlich der Einführung eines Bürgergeldes mancherorts erfuhren, erklären sich so wenigstens teilweise aus einem tiefgreifenden Unverständnis für die Notwendigkeit, an der aktuellen Situation in Deutschland Veränderungen vorzunehmen.

Für die frühere Regierungskoalition stellt sich die Lage ebenfalls kritisch dar, wenn jeweils drei Viertel der Anhänger und Wähler von SPD und Grünen die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland als ungerecht empfinden. Beide Parteien müssen sich fragen lassen, warum ihre Amtszeit auch als Phase eines einschneidenden Abbaus sozialer Gerechtigkeit wahrgenommen wird und der Begriff „Agenda 2010“ eben nicht zum Synonym für einen gesamtgesellschaftlichen Aufbruch und eine gemeinschaftliche Zukunftsgestaltung geworden ist.

Bedenklicher als all dies ist ein Aspekt, der Bertelsmann-Projektleiter Robert Vehrkamp offenbar besonders positiv aufgefallen ist. Er findet „vor allem bei den jüngeren Politikern ein modernes Verständnis sozialer Gerechtigkeit, das deutlich über eine reine Verteilungsgerechtigkeit durch staatliche Sozialtransfers hinausgeht.“ Die Entdeckung der Chancen- und Teilhabegerechtigkeit, mit der diese Abgeordneten das vermeintliche Blockdenken der Elterngeneration überwunden haben wollen, führt allerdings direkt in eine neoliberale Sackgasse, und das nicht nur, weil Chancen und Teilhabe immer bloß Varianten des einmal akzeptierten Systems darstellen und zwischen den Begriffen Gleichheit und Gerechtigkeit oft fundamentale Unterschiede bestehen.

Wenn eine Gesellschaft die innere Balance verliert und immer offensichtlicher in einzelne, strikt voneinander getrennte Schichten zu zerfallen droht, gibt es keine Basis mehr, von der aus sich Chancen- und Teilhabegerechtigkeit entwickeln ließe. Unzählige Studien haben bewiesen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen familiärer Herkunft, kindlicher und jugendlicher Sozialisation und anschließendem Bildungsweg besteht und eine ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung sich direkt auf die Möglichkeiten auswirkt, Bildungsangebote wahrzunehmen oder gesellschaftliche Entwicklungen mitzubestimmen.

Trotzdem wäre es naiv, die Entwicklung sozial gerechterer Strukturen von der Höhe staatlicher Transferleistungen abhängig zu machen. Dem freien Spiel des Marktes darf sie ebenso wenig überlassen bleiben, sodass Politiker, Interessenvertreter und Bürger nicht umhinkommen, vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen immer wieder konsensfähige Modelle einer gerechten Gesellschaftsordnung zu diskutieren und entsprechende Maßnahmen abzustimmen. Wenn 60 Prozent der Abgeordneten jedoch der Meinung sind, es sei im Prinzip alles in bester Ordnung, wird man sich vermutlich nicht einmal auf die Feststellung eines Handlungsbedarfs verständigen können.