Chomsky: "Es gibt das Risiko, dass der Westen bis nach Russland vordringen könnte"

Seite 2: Gefährliches Säbelrasseln auch gegenüber China

Einigen Berichten zufolge führt die ukrainische Regierung Hinterzimmer-Verhandlungen über die Lieferung moderner Waffen aus amerikanischer Produktion. Darüber hinaus haben Präsident Selenskyj und seine Regierung ein Dokument mit langfristigen Sicherheitsgarantien des Westens vorgelegt, das die künftige Sicherheit der Ukraine direkt an die Präsenz von Nato-Truppen im Land knüpfen würde. Moskau hat den Vorschlag – welche Überraschung – sofort zurückgewiesen. Der Vizepräsident des russischen Sicherheitsrates bezeichnete ihn als "Prolog zum dritten Weltkrieg". Ist der so genannte Kiewer Sicherheitsvertrag ein Weg zu einer Friedenslösung oder führt er dazu, den Konflikt nicht nur auf unbestimmte Zeit fortzusetzen, sondern ihn auch auf eine höhere Stufe zu eskalieren?

Noam Chomsky: Es ist schwer vorstellbar, dass eine russische Regierung Nato-Truppen in der Ukraine dulden würde. Das wissen hochrangige US-Beamte, die sich in der Region auskennen, schon seit dreißig Jahren, und jetzt ist es noch unwahrscheinlicher.

Was Russland tolerieren könnte, ist eine abgeschwächte Version dieser Forderung: langfristige Sicherheitsgarantien mit dem, was in der Diplomatie "strategische Zweideutigkeit" genannt wird, verbunden mit der Beendigung der Pläne für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. In der Vergangenheit hat Selenskyj etwas in dieser Richtung vorgeschlagen. Ob das eine Option weiter ist, können wir natürlich erst wissen, wenn man sich um eine diplomatische Lösung bemüht, wie es offenbar im April letzten Jahres zwischen der Ukraine und Russland geschehen ist.

Die Biden-Regierung, insbesondere das Pentagon, hat darauf geachtet, ihre Beteiligung am Krieg nicht zu schnell zu eskalieren, um eine russische Reaktion zu verhindern, die bisher nicht eingetreten ist, was Washington und London durchaus verblüfft. Der Kongress ist eine andere Sache. Er scheint wild entschlossen zu sein, in die Katastrophe zu stürzen. Forderungen nach Flugverbotszonen und anderen sehr gefährlichen Initiativen wurden vom Pentagon blockiert, aber das Säbelrasseln geht weiter. Das gilt auch für China, oder, um es gemäß den Beschlüssen des jüngsten Nato-Gipfels auszudrücken, für den "indopazifischen Raum des Nordatlantiks".

Der Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan war schon waghalsig genug, aber die Falken im US-Kongress, über Parteigrenzen hinweg, sind entschlossen, die Möglichkeit eines finalen Atomkriegs noch weiter zu erhöhen.

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wurde am 14. September unternommen, als der Ausschuss für auswärtige Beziehungen des Senats den Taiwan Policy Act 2022 verabschiedete, der von den Ausschussvorsitzenden Robert Menendez (Demokraten) und Lindsey Graham (Republikaner) eingebracht wurde.

Das Gesetz sieht vor, dass Taiwan als "wichtiger Nicht-Nato-Verbündeter" eingestuft wird. Taiwan soll in den nächsten vier Jahren 4,5 Milliarden Dollar an Sicherheitshilfe erhalten, die Teil eines "umfassenden Ausbildungsprogramms mit der taiwanesischen Regierung" sein soll. Das Gesetz sieht auch "mehr Interoperabilität zwischen dem US-amerikanischen und dem taiwanesischen Militär (sowie) gemeinsame US-amerikanisch-taiwanesische Notfallübungen, Kriegsspiele und, wie es im Gesetzentwurf heißt, robuste, einsatzrelevante oder groß angelegte Militärübungen" vor, wie die Asia Times berichtet.

Darüber hinaus erklärt das Gesetz als US-Regierungspolitik, "der Bevölkerung Taiwans eine de facto diplomatische Behandlung zukommen zu lassen, die der für andere Länder, Nationen, Staaten, Regierungen oder verwandten Körperschaften gleichwertig ist" und "alle unangemessenen Beschränkungen" zu beseitigen, die US-Vertreter daran hindern, "direkt und regelmäßig mit ihren Amtskollegen der Regierung Taiwans zu interagieren".

Der ehemalige australische Verteidigungsminister Mike Scrafton bemerkt:

Die Chinesen können dies nur als eine provokative De-Facto-Anerkennung der Unabhängigkeit Taiwans betrachten.

Nach internationalem Recht, das Taiwan als Teil Chinas betrachtet, ist das "eine offenkundige Verletzung der Souveränität Chinas und eine grundlegende Schwächung der Ein-China-Politik". Einmal mehr zeigt sich, dass die "regelbasierte Ordnung" der USA unter Missachtung des Völkerrechts nichts anderes ist "als die Beibehaltung der US-Hegemonie".

Sollte das Gesetz verabschiedet werden, "wäre es ein Wendepunkt und spiegelt die Bereitschaft der USA wider, sich auf einen Krieg einzulassen, der für die Region und die Welt katastrophal wäre". Es sollte Australien dazu veranlassen, sein Engagement für das von den USA dominierte regionale System zu überdenken.

Der Wortlaut des Gesetzes scheint sich an den Programmen zu orientieren, die vor der russischen Invasion durchgeführt wurden, um die Ukraine zu einem "De-Facto-Nato-Mitglied" zu machen, wie es das US-Militär formulierte.

Die Biden-Regierung lehnt die Gesetzesinitiative des US-Kongresses ab, wie sie schon Pelosis Reise nach Taiwan nicht unterstützte. Eine Umsetzung der Menendez-Graham-Gesetzesinitiative wäre aber jenseits der politischen Selbstvermarktung ein schwerer Schlag gegen die "strategische Zweideutigkeit" der Ein-China-Politik, die den Frieden in einer unbeständigen Region seit einem halben Jahrhundert bewahrt hat.

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