Chomsky: "Es gibt das Risiko, dass der Westen bis nach Russland vordringen könnte"

Seite 3: Kampf um eine neue Weltordnung: Uni- vs. Multipolarität

Die Europäische Union setzt China und Indien unter Druck, eine Preisobergrenze für russisches Öl zu unterstützen. Russland hat natürlich erklärt, dass es kein Öl an Länder verkaufen wird, die eine Obergrenze festlegen. Daher stellt sich hier eine doppelte Frage: Erstens, wie wahrscheinlich ist es, dass China und Indien dem Vorschlag der EU zustimmen werden, zumal beide Länder ihre russischen Öl-Käufe seit Moskaus Einmarsch in der Ukraine nicht nur erhöht haben, sondern auch zu ermäßigten Preisen kaufen, und zweitens, was wären die politischen Auswirkungen, falls sie dem Druck nachgeben und doch mitmachen?

Noam Chomsky: All das ist Teil der Neukonfiguration der Weltordnung, die schon seit einiger Zeit im Gange ist und durch Putins kriminelle Aggression vorangetrieben wurde. Eine Konsequenz ist, dass Europa Washington nun ohne jeglichen Widerstand folgt. Dieses höchst willkommene Geschenk wurde den USA von Wladimir Putin kostenlos überreicht, als er die Last-Minute-Bemühungen des französischen Präsidenten Macron, eine Invasion noch abzuwenden, mit offener Verachtung zurückwies. Es ist ein zentraler Beitrag zu Washingtons atlantischem Projekt globaler Hegemonie.

Die Kernfrage, um die es geht, ist meines Erachtens Unipolarität vs. Multipolarität. Seit die USA vor 80 Jahren die globale Dominanz von Großbritannien übernahmen, haben sie weit über das, wovon die Briten nur träumen konnten, eine unipolare Welt angestrebt und dieses Ziel in erheblichem Maße verwirklicht, und zwar auf eine Art und Weise, auf die wir nicht näher eingehen müssen. Dagegen hat es immer Widerstand gegeben.

In vielerlei Hinsicht war die bedeutendste und am wenigsten diskutierte Form des Widerstands das Bemühen der ehemaligen Kolonien, einen Platz in der internationalen Ordnung zu finden: UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung), die Neue Internationale Wirtschaftsordnung, die Neue Internationale Informationsordnung und viele andere Initiativen.

Diese wurden vom imperialen Machtzentrum niedergeschlagen, manchmal bis hin zu Morden (siehe den bedeutsamen Fall von Patrice Lumumba), wenn andere Mittel nicht ausreichten. Einige Elemente haben überlebt, wie die BRICS (das Wirtschaftsbündnis von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Das aufstrebende China führt die Bemühungen um eine multipolare Ordnung in der modernen Welt an.

Gegenwärtig manifestiert sich der Langzeitkonflikt auf viele Weisen. Eine davon ist das intensive Bemühen der USA, Chinas technologische Entwicklung zu behindern und es mit schwer bewaffneten US-Satelliten "einzukreisen". Eine andere ist das auf der Nato basierende, von den USA betriebene atlantische Projekt, das durch Putins Kriminalität neuen Auftrieb erhalten hat und vor kurzem offiziell auf den indopazifischen Raum ausgedehnt wurde.

Die größte Herausforderung stellt Chinas gigantisches Entwicklungs- und Investitionsprojekt dar – die von der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit unterstützte Neue-Seidenstraßen-Initiative –, die Zentralasien umfasst und inzwischen weit darüber hinausreicht. Auf ideologischer Ebene geht es um eine Konfrontation, die die auf den Vereinten Nationen basierende internationale Ordnung gegen das auf Regeln basierende internationale System (wobei die USA die Regeln festlegen) stellt. Letzteres wird in den USA ohne große Kontroverse oder auch nur Beachtung akzeptiert.

Die Probleme, die Sie in der Frage aufgeworfen haben, finden ihren Platz in diesem größeren Rahmen. Ihre Lösung hängt davon ab, wie sich der weitreichende Prozess der Neujustierung der internationalen Ordnung entwickeln wird. Eine höchst ungewisse Angelegenheit, die von großer Tragweite ist.

Es gibt noch eine grundlegendere Frage, die nicht übersehen werden kann. Solange die Großmächte keine Mittel und Wege finden, um den größten Bedrohungen in der Geschichte der Menschheit – Umweltzerstörung und Atomkrieg – entgegenzutreten, wird nichts anderes von Bedeutung sein.

Die Zeit dafür ist knapp.

Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm zusammen mit Marv Waterstone im Westend Verlag: "Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand".

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