Computerspiele - der am schnellsten wachsende Sektor der Unterhaltungsbranche

Doch wie Musikindustrie sieht die Branche im Internet eher eine Gefahr

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Manche sagen, wie gerade erst Gundolf Freyermuth in der letzten ct, daß die Technik vom Sex vorangetrieben wird. Andere meinen, daß insbesondere beim Computer es die Spiele sind, die für technische Fortschritte der Technik sorgen. Zumindest aber ist die Video- und Computerspielindustrie der am schnellsten wachsende Sektor der Unterhaltungsbranche. Mit einem Wachstum von 29 Prozent hat sie die Musikbranche (12,3 Prozent) und die Filmindustrie (9,2 Prozent) überholt. 1998 wurden 6,3 Milliarden Dollar Einkünfte allein von den amerikanischen Firmen auf dem heimischen Markt erzielt.

Bei einer zu Beginn der Electronic Entertainmant Expo (E3 Expo), der größten Computerspielmesse, die vom 13. bis 15. 5. in Los Angeles stattfand, veröffentlichten Befragung von über 1600 amerikanischen Haushalten, wählten die Amerikaner interaktive Spiele als Unterhaltungsfavoriten (34 Prozent), während Fernsehen (18 Prozent) und Kino (16 Prozent) weit dahinter rangieren. 200 Millionen Computerspiele wurden 1998 in den USA verkauft, wobei die meisten Computerspieler (69 Prozent) Erwachsene sind. 97 Prozent der Computerspiele und 89 Prozent der Konsolenspiele werden von Erwachsenen gekauft. Und das sind nicht mehr nur Männer, denn 35 Prozent der Konsolenspieler und 43 Prozent der Computerspieler sind bereits Frauen.

Die häufigen Spieler wurden gefragt, welche Unterhaltungsform in 10 Jahren am populärsten sein werde. Obgleich bei diesen 48 Prozent angaben, daß interaktive Angebote jetzt die besten Unterhaltungsprogramme seien, steht für sie in der Zukunft das Internet (30 Prozent) an der Spitze, gefolgt von interaktiven Spielen (26 Prozent), DVD/VCR (22 Prozent) und Fernsehen (16 Prozent).

Natürlich stand die Messe im heutigen Jahr trotz aller Erfolge der Branche für interaktive Spiele auch unter Rechtfertigungszwang. Das von den Jugendlichen mit einer Vorliebe für gewaltsame Computerspiele verübte Massaker in der Schule in Littleton, das offenbar lange genau vorbereitet wurde und in seiner Durchführung manche an ein Spielszenario erinnerte, führte zu landesweiten Diskussionen und Kritik der immer realistischeren Darstellung von Gewaltszenen.

Heute hat Bill Clinton sich an die Unterhaltungsindustrie gewandt, weil noch immer zuviel Gewalt auf den "kleinen und großen Bildschirmen" sei: "Zuviele Produzenten und Vertreiber von Gewalt sagen, daß man nichts dagegen machen könne. Und es gibt zuviele verletzbare Kinder, die in diese Kultur der Gewalt eingetaucht sind und zunehmend gegenüber ihr und ihren Folgen abgestumpft werden." Man müsse die Menge an Gewaltdarstellungen, denen Kinder ausgesetzt sind, weiter reduzieren. Clinton verwies auf Statistiken, die davon ausgehen, daß der typische Amerikaner bis zu seinem 18. Lebensjahr 40000 dargestellte Morde gesehen habe. Der Präsident plädierte für eine Überarbeitung der Bewertungskriterien zur Einstufung von Gewaltdarstellungen bei Filmen und Videos.

Disneyland hat bereits eine Säuberungsaktion in Tomorrowland und Critterland vorgenommen und 30 Spiele entfernt, bei denen man auf Menschen oder Tiere schießen muß, um weiterhin ein Ambiente für die ganze Familie zu bieten. Littleton habe zwar, so Ray Gomez, Sprecher von Disneyland, diese Entscheidung beeinflußt, aber man habe das schon länger vorgesehen. Auch in Disney World wurden Spiele, die Gewalt beinhalten, entfernt.

Don Tapscott, der Hauptsprecher auf der E3 Expo und Autor des Buches Growing Up Digital, versicherte allerdings der Branche, daß es keine Verbindung zwischen interaktiven Spielen und Gewalt gebe und daß die Kritiker, die eine solche Verbindung zwischen gewalttätigen Spielen und Ereignissen wie in Littleton herstellen, nur die Aufmerksamkeit der Gesellschaft von den eigentlichen Ursachen ablenken: "Niemand hat bislang irgendeine Verbindung zwischen diesen Spielen und tragischen Vorfällen wie in Littleton oder zur allgemeinen Jugendgewalt aufzeigen können. Aber unzählige Untersuchungen haben einen Zusammenhang der Gewalt von Jugendlichen mit Faktoren wie Armut, mangelnde Fürsorge der Eltern, Gewalt in der Familie, unbehandelten geistigen Störungen, Käuflichkeit von Gewehren, Drogenmißbrauch und Drogenkämpfen gezeigt." Höchstens für gestörte Kinder, die sowieso die Wirklichkeit mit der Phantasie verwechseln und ihre Krankheit durch Aggression zum Ausdruck bringen, bestünde eine Gefahr, daß sie von gewaltsamen Medieninhalten angezogen würden. Doch man dürfe nicht der Gesamtheit der Menschen den Zugang zu bestimmten Angeboten verweigern, bloß weil dadurch wenige Einzelne gefährdet werden: "Der mögliche Mißbrauch von Inhalten ist der Preis, den wir für eine freie Gesellschaft bezahlen."

Wenn Medien nicht als Ursache für steigende Gewaltbereitschaft kritisiert werden, dann gelten sie oft als Mittel zur Ablenkung von der Wirklichkeit, indem man durch sie in eine virtuelle Welt flüchtet. Interessanterweise dreht Tapscott beide Vorwürfe um: "Während der letzten fünf Jahre, seit die Popularität der Computerspiele und ihr Realismus explodiert sind, ist der Anteil der Gewalt von Jugendlichen zurückgegangen. Wenn wir einfach unsere Energien nach Littleton auf die populäre Kultur wie beispielsweise auf Gewalt zeigende Computerspiele richten, dann versäumen wir die Gelegenheit für einen ernsthaften Dialog über die wirklichen Probleme, die die Gesundheit unserer Jugend heute bedrohen." Gleichwohl forderte er die Branche auf, die bereits größer als Hollywood sei und noch weiter wachsen werde, sie solle dafür sorgen, daß der Umgang der Kinder mit diesen Medien "positiv, dem Alter angemessen und vergnüglich" bleibt. Vor allem sollte sich die Branche nicht darauf konzentrieren, mit immer besseren Techniken Gewalt immer realistischer darzustellen, sondern eine neue Generation von Spielen zu schaffen, die Unterhaltung mit Lernen verbinden.

Auch sonst pries Tapscott weitgehend, dem Anlaß entsprechend, die Branche, die die Unterhaltung revolutioniere und ein neues interaktives Modell der Unterhaltung hervorbringe, das vom Film bis zum Fernsehen alles verändern werde. Computerspiele stünden im Zentrum der großen Innovationen bei den Comutern, aber er sagte auch voraus, daß das Internet die Spielbranche gleichfalls tiefgreifend verändern werde. Das freilich scheinen die Manager der großen Firmen noch nicht zu glauben, denn der Großteil ist der Meinung, daß auch nach 2003 höchstens 20 Prozent der Einkünfte über das Internet erzielt würden. Doch hier könnten sich die weitgehend noch auf den PC und Spielkonsolen orientierten CEOs täuschen. Ebenso wie in der Musik- oder Filmbranche findet man auch hier eher eine Abwehr gegenüber dem Internet, das bestenfalls als Werbemedium, eher aber als Mittel zur Vertreibung von Raubkopien betrachtet wird.

Tapscott allerdings prophezeit, daß in Zukunft durch das Internet nicht nur die Vermarktung sich verändern werde, sondern auch das gesamte Geschäftsmodell der Branche: "Beispielsweise können sich selbst organisierende Allianzen nach dem Open Source Modell die Industrie umformen. Ebenso wie Linux den Markt für Betriebssysteme aufwirbelt, kann die Einbeziehung der Kunden beim Erweitern der Kapazitäten der Spiele und beim Schaffen von eigenen Funktionalitäten zu großen neuen Märkten führen."

Im Hinblick auf die oben bereits erwähnte Befragung wiederholte Douglas Lowenstein, Präsident der Interactive Digital Software Association (IDSA), nur die Litanei, die man überall dort bereits zur Genüge kennt, wo es um das geistige Eigentum geht. Angeblich habe die Branche durch die größte Bedrohung allein letztes Jahr durch Raubkopien 3,2 Millarden Dollar verloren, was nicht die in Millionen gehenden Verlust durch das Internet einschließe. Alarmierend sei, so Lowenstein, die Meinung vieler Spieler, daß Raubkopieren "nicht schlimm" sei. Die Befragung habe gezeigt, daß 20 Prozent der PC-Spieler und ein Viertel der Benutzer von Konsolen der Aussage zustimmen, daß der Kauf von geschmuggelten oder illegalen Spielen 'nicht schlimm' ist. Diese Anschauung zu verändern, ist eine der größten Herausforderungen dieser Branche im nächsten Jahrhundert."

Daher geht man auch entschlossen gegen Raubkopierer oder solche, die man dafür hält, im Internet vor. In den letzten Monaten wurden von der IDSA mehr als 200 Websites geschlossen, die Raubkopien zum Kaufen oder zum kostenlosen Herunterladen anboten. Vorgegangen ist man auch gegen Websites, die Versionen von klassischen Spiele anbieten, wobei die ROM-Chips der längst verschwundenen Geräte für den PC emuliert werden. Spielefans aus aller Welt tragen ähnlich wie bei freier Software, beispielsweise bei Multiple Arcade Machine Emulator (Mame) von Nicola Salmoria, zur Emulation der alten Geräte bei, um die Spiele zu neuem Leben zu erwecken. Obwohl die Spiele nicht mehr im Handel sind und auch nicht mehr gespielt werden können, mißfiel der IDSA dieses Treiben. Sie drohte den entsprechenden amerikanischen Websites rechtliche Schritte wegen der ROM-Dateien auf ihren Servern an. Um etwa die Website Dave's Classics, die seit 1996 von über 27 Millionen Menschen besucht wurde, offen zu halten, mußte deren Betreiber die ROM-Dateien entfernen. "Nur weil ein bestimmtes Spiel", so Carolyn Rauch von IDSA, "gegenwärtig nicht zum Kauf angeboten wird, heißt das noch nicht, daß dies niemals mehr der Fall sein wird. Aber wenn diese Spiele überall erhältlich sind, dann untergräbt dies den Wert dieses geistigen Eigentums und schädigt den Inhaber des Copyrights." Doch eine "Umerziehung" durch Androhung von Strafen wird vermutlich nicht das Versprechen des Internet auf freien Zugang zu Informationen und Daten aus der Welt schaffen können, zumal Verbote an einem Ort wie immer beim Internet nur eine Auswanderung an Orten bewirkt.

Für Salmoria von Mame haben die Emulationen allerdings nicht nur den Zweck, mit ihnen die alten Spiele spielen zu können: "Es ist ein Open Source Projekt. Der Code ist die größte Sammlung an Hardware. Ihr Wert geht weit über die Möglichkeit hinaus, damit die Spiele ausführen zu können." Würde man die Emulationen nicht machen, ginge ein Stück der frühen digitalen Geschichte verloren: "Ist es richtig, daß Copyrights eine Größenordnung länger gelten, als die Lebenswerwartung der Hardware ist, auf der die Software läuft? Und wer wird Spiele wie Robot Bowl sichern, wenn wir es nicht machen?"

Tapscott jedenfalls warf der Spielebranche wohl zu Recht vor, daß sie in Gefahr steht, die Zukunft zu verschlafen, wenn sie nur gegen das Internet kämpft, denn in der Mitte des nächsten Jahrzehnts würden die erfolgreichsten Spiele und Firmen im Netz sein.