Corona-Management: "Entscheidungsträger haben sich verrannt"
Seite 2: Corona-Berater: Keine Meinungsvielfalt in der Politik
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Sie haben mit Coautoren mehrerer Thesenpapiere und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaus-Hygiene, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie eine Website lanciert, auf der sie erneut einen Strategiewechsel fordern. Haben Sie denn das Gefühl, bei politischen Entscheidungsträgern durchzudringen?
Matthias Schrappe: Durchzudringen ist schwierig, weil sich die Entscheidungsträger größtenteils in eine Situation verrannt haben, die ihnen, ohne einen Gesichtsverlust zu riskieren, nur noch das "Weiter so" erlaubt.
Ich spreche in diesem Zusammenhang vom "Kuba-Syndrom", unter Bezug auf die entsprechende Krise 1961. Damals wurde im Nachgang genau analysiert, was es für enorme Gefahren birgt, wenn eine Führungsmannschaft nur aus Personen besteht, die die gleiche Meinung vertreten – die Invasion Kubas sei eine Kleinigkeit –, und keine anderslautende Meinung mehr Zutritt findet.
Das ist ein Klassiker; in der Weltgeschichte, aber auch im Risikomanagement und der Risikoforschung finden sich solche Situationen zuhauf, oft mit katastrophalem Ausgang. Es müsste also eine politische Persönlichkeit die Bühne betreten, die die Souveränität hätte zuzugeben, dass schwerwiegende Fehler gemacht worden sind – keine zuverlässigen Zahlen, keine Schutzprogramme – und dass man jetzt die Bevölkerung bittet, bei einer Neuauflage der Strategie mitzumachen: periphere Aktivitäten fördern, den Schutz der vulnerablen Gruppen auch und vor allen Dingen außerhalb der Pflegeheime organisieren, den Impfprozess besser gestalten.
Eine Strategie, die Selbstständigkeit fördert, statt zu passivem Gehorsam für dauernd geänderte Regeln zu erziehen. Anlass gibt es immer noch mehr als genug: Wir werden mit der Impfquote nicht über 75 Prozent kommen, wir werden noch jahrelang Ausbrüche zu bewältigen haben und wir können nur hoffen, dass wir den Hardlinern, die mit totalitär anmutenden Mitteln die Menschen und Gemeinschaften in ein Rennen gegeneinander um "grüne Zonen" schicken wollen, eine Haltung entgegensetzen können, die den humanitären Grundsätzen unserer Gesellschaft entspricht.
Vertreter aller Regierungsparteien haben vor einer ihrer Meinung nach zu frühen Öffnungsdebatte gewarnt. Wie empfinden Sie als Mediziner und Wissenschaftler solche Interventionen?
Matthias Schrappe: Man kann diese Haltung nur unter dem Aspekt der "Befürchtungsfalle" verstehen. Es könnte ja ein neuer Fall auftreten, ein Cluster mit einer Mutation, ein Anstieg der Zahlen – was wird dann aus meinen Wahlchancen? In der Konsequenz wird also immer weiter gemacht – anstatt dass Politiker mit Format auch mal sagen: Wir müssen etwas riskieren, es kann gut gehen, im Einzelfall kann auch eine Verschlechterung auftreten, aber in keinem Fall können wir mit dem tumben Konzept von heute weitermachen.
Insofern kann ich als Wissenschaftler mit ausgeprägtem Management-Hintergrund nur darauf vertrauen, dass der fachliche Rat irgendwann doch durchdringt. Es gibt ja in meiner persönlichen Vita viele solcher Themen, auch beim Thema Patientensicherheit oder klinische Infektiologie hat es viele Jahre gebraucht.
Unklare Folgen der Lockdown-Strategie
Sind die Folgen der Lockdown-Politik abzusehen?
Matthias Schrappe: Noch kaum. Was wissen wir schon, wie die Chancen der Kinder aussehen, insbesondere aus den Kreisen, die nicht, wie viele Virologen und Politiker, über große Wohnungen und Häuser mit Garten sowie genügend Ressourcen für großzügiges Homeschooling verfügen, sondern mit drei Kindern in einer Zweieinhalbzimmerwohnung ausharren, samt Homeoffice womöglich.
Allein diese zunehmende soziale Spaltung, die sich hier auftut, wird uns noch lange beschäftigen, wenn überhaupt noch jemand hinschauen wird, wenn sie überhaupt noch aufzuholen sein wird.
Und ökonomische Folgen, die Folgen für die Kultur, die Folgen für die Mitmenschlichkeit einer auf das individuelle Verhalten zurückgeworfenen Generation, wer will das beziffern, vor allem wenn solche intangiblen Werte ja im Gegensatz zum Abzählen von täglichen Melderaten nicht so einfach zu erfassen sind?
Die entscheidende Frage ist dann die Folgende: War es das "Wüten des Virus" oder war es die Gestaltung dieser Krise durch die Gesellschaft? Wo suchen wir später die Verantwortung? Hieran wird sich entscheiden, ob wir eine Chance haben. Wenn wir es als gemeinschaftliche Aufgabe der Gesellschaft sehen, kann es gelingen.
In der öffentlichen Debatte werden die möglichen Folgeschäden gemeinhin als ein Thema behandelt, das von der Pandemie-Politik abgekoppelt ist. Aber sind nicht gesundheitliche Schäden abzusehen?
Dies Vorgesagte gilt auch für gesundheitliche Schäden. Einerseits wird die Leistungsfähigkeit der Gesundheitssystem durch das Auftreten der Epidemie auf eine harte Probe gestellt, und sie brechen weg genau an den Sollbruchstellen, die wir kennen: bei uns an der Koordination; in den USA an der Finanzierbarkeit, allein schon an den Kosten für einen einzigen PCR-Test; in den südeuropäischen Ländern an den Folgen einer überstürzten Privatisierung im Gesundheitswesen, dessen Ressourcen nicht optimal genutzt werden konnten.
Zudem wird die Behebung der Folgen lange Zeit in Anspruch nehmen. Nicht nur durch aufgeschobene Behandlungen, sondern auch durch eine Verstärkung der Zergliederung des Gesundheitssystems, durch die Schwächung des Datenschutzes und der Schweigepflicht, durch die einseitiger Stärkung der Grundlagenforschung auf Kosten der anwendungsorientierten Wissenschaften im Gesundheitsbereich, durch den Rückfall in die Eminenz- und Expertenhörigkeit statt einer transparenten evidenzbasierten Medizin.
Wir waren vor der Epidemie weit vorangeschritten, etwa in der Förderung der Eigenständigkeit der Patienten – Stichwort Patientenautonomie –, bei den Themen Qualität und Patientensicherheit. Heute erscheint all das fast wie Diskussionen früherer Jahrhunderte.
Sehr wichtig ist mit die zunehmende Gefährdung der ärztlichen Schweigepflicht. Wenn diese weiter durch diejenigen gefährdet wird, die Corona sogar noch gutheißen als den längst überfälligen Schub für ihr technologisches Mantra der Digitalisierung, sei nur gesagt: Wenn die Patienten aufhören uns zu erzählen, ob sie Symptome haben, aus Angst, dass dies in ihren Akten steht und dort nicht vertraulich verbleibt, denken wir nur an den Psychotherapie-Skandal in Finnland, dann werden diese Risiken alle Digitalisierungsvorteile zusammen weit übertreffen.
Ein Hauptthema schließlich ist die andauernde Schließung oder Teilschließung von Schulen. Welche Verantwortung kommt den politischen Entscheidungsträgern hier zu?
Matthias Schrappe: Eine überaus große Verantwortung. Die politischen Entscheidungsträger sollten endlich bereit sein, sich von der einseitigen Betrachtung der Melderaten zu lösen und eine multidimensionale Perspektive einzunehmen, in der ökonomische, verfassungsrechtliche und Argumente der Generationengerechtigkeit, Ausbildung von Kindern und Jugendlichen, gleichberechtigt neben den epidemiologischen Befunden berücksichtigt werden. Wir haben bereits im Frühsommer letzten Jahres ein solches Bewertungssystem vorgeschlagen.
Matthias Schrappe ist emeritierter Professor für Innere Medizin. Von 2007 bis 2011 war er stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung im Gesundheitswesen.
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