Corona-Maßnahmen: Verliert die niederländische Regierung die Kontrolle?

Seite 2: Dammbruch

Damit ist zwar noch nicht das Chaos angebrochen, sehr wohl aber ein Damm gebrochen: Vereinzelte Regelverstöße wurden jetzt toleriert. Werden sich als nächstes Sportfans "zum Haareschneiden" in Fußballstadions verabreden? Werden Reisende im Personenverkehr keine Schutzmaske mehr tragen, um kurzzeitig (z.B. für die Dauer einer Bahnreise) "zu demonstrieren"?

Für das vierte Kabinett unter der Führung Mark Ruttes könnte die Situation noch gefährlich werden. Die Kinderzuschlagsaffäre, bei der jahrelange rassistische Diskriminierung durch die Finanzbehörden aufgedeckt wurde, hat dem Ansehen der Regierung ohnehin geschadet.

Sie war es, die im Januar 2021 zum formalen Rücktritt von Ruttes drittem Kabinett führte. Erst kürzlich entschuldigte sich dafür sogar der oberste Verwaltungsrichter des Landes, Bart Jan van Ettekoven, im Fernsehen bei der Bevölkerung. Man sei den Behörden gegenüber zu gutgläubig gewesen und habe an der harten Linie gegen verdächtigte Bürgerinnen und Bürger zu lange festgehalten.

Die neue Regierungsbildung war mit rund einem Jahr Dauer dann auch die bisher längste in der Geschichte des Landes und wiederum von Skandalen überschattet. Nach vielen gescheiterten Anläufen haben sich endlich vier Parteien zur Regierungskoalition zusammengefunden, verfügen mit 77 von 150 Sitzen aber nur um eine hauchdünne Mehrheit in der wichtigsten Parlamentskammer.

Splitterparlament

Diese ist mit zwanzig(!) Fraktionen zersplitterter denn je. Zudem hat Rutte Regierung keine Mehrheit in der anderen Parlamentskammer, dem Senat. Ohne dessen Zustimmung können keine Gesetze in Kraft treten. Die linken Parteien PvdA und GroenLinks könnten hier also die Regierungsarbeit blockieren.

Nach großer Stabilität sieht das nicht aus. Dass Ruttes viertes Kabinett bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2025 durchhält, ist damit nicht ausgemacht. Es wäre nicht das erste Mal, dass es vor Ende einer Legislaturperiode zu Neuwahlen kommen muss. Eine Affäre oder ein Skandälchen könnte schnell zum Verlust von einem der vier Koalitionspartner und damit zum Scheitern der Regierung führen.

Für eine Änderung der politischen Verhältnisse in Den Haag und den Niederlanden müsste die bürgerlich-liberale D66, zweitstärkste Fraktion im Parlament und der Koalition, die VVD überholen. Diese Partei stellt nun auch mit Sigrid Kaag die erste Vize-Premierministerin und mit Vera Bergkamp die Parlamentsvorsitzende.

Für einen Linksruck müssten PvdA, GroenLinks und die SP deutlich mehr Stimmen bekommen, die eine weitere Zusammenarbeit mit dem für sie zu konservativen Mark Rutte kategorisch ausschlossen. Oder kommt es zu einem Rechtsruck mit Geert Wilders' PVV, zurzeit dritte Kraft im Parlament, und der neueren FvD?