Corona: Nötige Nacharbeiten

Gastbeitrag: Fehlende Erfahrung bis schiere Angst als schlechte Ratgeber in einer neuartigen Krisensituation

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Wir erleben in diesen Tagen eine Pandemie des Coronavirus SARS-CoV-2 und der damit verbundenen COVID-19 Erkrankung, wie es die Menschheit bisher noch nicht erlebt hat. Zweifelsohne ist die weltweit verlaufende Welle, die wir in Echtzeit miterleben, in ihrer Schwere beeindruckend, doch sollte uns in Zeiten der Globalisierung eine solche, sich weltweit schnell ausbreitende Infektionswelle nicht weiter verwundern.

Was allerdings viel mehr verwundert, sind die Berichte über Fallzahlen, Infektionswege, Gefährlichkeit und vieles mehr, was von den Medien begierig ausgeschlachtet wurde. Die Bevölkerung erscheint zunehmend verunsichert und viele Dinge erscheinen auch Fachleuten nicht oder nur teilweise einleuchtend.

Infektionswege: Warum ausgerechnet Heinsberg?

Mediale Präsenz erfuhr die sich auch in Deutschland anbahnende Epidemie durch viele nach einer Karnevalsfeier am 25.02.2020 im bei Aachen gelegenen Heinsberg erkrankten Karnevalisten. Der sich dort schnell verbreitende Virus dient bis heute als Sinnbild der Gefährlichkeit und Aggressivität dieses neuartigen Erregers. Es stellt sich nun allerdings auch die naive Frage: Warum ausgerechnet Heinsberg und nicht die Karnevalshochburgen Mainz, Köln oder Düsseldorf?

Oft genug wurden lokale Herde der Epidemie ausgemacht und in direkten Bezug zu Wintersportheimkehrern aus Italien oder Österreich hergestellt. Wie plausibel kann es sein, dass die anderen Karnevalshochburgen von großen Infektionswellen bedingt durch Wintersportheimkehrer verschont bleiben konnten?

Zunächst daher ein paar einführende Worte zu Infektionswegen zweier bekannter Viren. So gelangt der Influenzavirus über Oberflächenrezeptoren, die am Ende ihrer Zuckerketten 5-N-Acetyl-neuraminsäure (Sialinsäure) tragen, in unsere Zellen, wohingegen das Coronavirus SARS-CoV-2 über das Angiotensin-konvertierende Enzym 2 (ACE2) vermittelt in unsere Zellen gelangt.

Während der Influenzavirus vor allem Menschen mit schwachem Immunsystem (alte Menschen- vor allem mit Vorerkrankung-, Menschen mit Autoimmunerkrankung und Kinder- wegen ihres noch unausgereiften Immunsystems) befällt, so sollte dies auch für SARS CoV-2 gelten, doch ist es laut der Statistiken vor allem für alte Menschen über 65 Jahre mit massiven Vorerkrankungen gefährlich. Wie kann es sein, wo wir doch alle dieses Angiotensin-konvertierende Enzym 2 besitzen?

Wie können ganze Bevölkerungsgruppen fast gänzlich von diesem Virus verschont bleiben und der Virus diese Pforte scheinbar nur bei prozentual wenigen Menschen bevorzugt, allerdings bei hochbetagten Mitbürgern mit massiver Vorerkrankung effizient nutzen? Könnte es nicht eventuell sein, dass die ca. 5 % der Bevölkerung, die einen massiven Verlauf der Erkrankung zu beklagen haben, über natürliche Variationen von ACE2-Proteinen verfügen, die es dem Virus erleichtern, in die Zellen zu gelangen?

Es sind in der Literatur 32 Varianten dieses Proteins beschrieben (Cao et al., 2020), die tatsächlich Auswirkungen auf seine Struktur haben. Zudem ist es populationsgenetisch sehr gut denkbar, dass solche Varianten lokal gehäuft auftreten, wie es beispielsweise auch in entlegenen italienischen Dörfern der Fall sein könnte. Dies könnte erklären, warum manche Menschen von diesem Virus fast symptomfrei verschont bleiben (da der Virus nicht effizient in ihre Zellen eindringen kann) andere hingegen einen überaus schweren Verlauf zeigen.

Zudem könnte dies auch eine zusätzliche Erklärung dafür liefern, dass Männer scheinbar schwerer betroffen sind, da Männer nur eine Kopie des X-chromosomal kodierten ACE2 Proteins tragen, Frauen hingegen zwei.

Schutzmasken

Viele von uns, so wird in den Medien verkündet, sollen trotz gänzlicher Symptomfreiheit infektiös sein. Es ist allerdings schwer nachvollziehbar, wie dies in der Praxis funktionieren soll. Bei virusbedingten Erkältungskrankheiten handelt es sich zumeist um Tröpfcheninfektionen. Diese entstehen dadurch, dass Viren sich unzählig in menschlichen Zellen von deren Zellmaschinerie vervielfältigen lassen und diese beim Verlassen zerstören.

Im Zuge dieses sogenannten lytischen Zyklus entwickeln wir urplötzlich Grippesymptome, husten, niesen und haben Schnupfen, wodurch der Virus maximal verbreitet wird. Zeigen wir nun allerdings keine Symptome, muss davon ausgegangen werden, dass die Viruslast minimal ist. Diese geringe Anzahl an Viren wird bei symptomfreien Menschen dann auch kaum weiterverbreitet, da diese weder husten noch niesen noch Schnupfen haben.

Wer sehen will, wie weit unser Atem unter normalen Bedingungen reicht, der stelle sich bitte vor einen kalten Spiegel und versuche selbigen durch starkes Ausatmen zum Beschlagen zu bringen. Unter normalen Bedingungen ist dies die Distanz, in der nicht niesende und hustende Menschen durch ihren Atem infektiös sein könnten - gesetzt den Fall, ihre Viruslast ist hoch genug, um das Immunsystem eines anderen Menschen zu überwinden.

Warum wir nun alle Schutzmasken tragen müssen, ist daher schwer verständlich. Um aber keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ist das Tragen von Atemschutzmasken, wie auch von der WHO empfohlen, für Bedienstete im Gesundheitswesen und für Erkrankte, die das Haus verlassen müssen, ausdrücklich zu empfehlen.

Winterzeit ist Grippezeit, sagt der Volksmund, und in der Tat kennt sicher jeder von uns U-Bahnen und Busse, deren Scheiben vorzugsweise im Winter beschlagen sind und worin sich hustende und schnupfende Menschen tummeln.

Dies ist der perfekte Nährboden für Bakterien und Viren. Der Sommer hingegen verläuft zumeist ohne größere Grippewellen, da wir mehr Zeit im Freien verbringen, anstatt in beheizten Räumen. Zudem spielt dabei auch die Sonne eine nicht zu unterschätzende Rolle, da deren UV-Strahlung Viren rasch abtötet.

Nicht umsonst wird in molekularbiologischen Laboren UV-Licht benutzt, um Oberflächen keimfrei zu halten. Denkt man an den Lockdown zurück, so hatten wir das Glück, in dieser Zeit durchweg schönes Wetter zu haben. Dies wird uns sicher bei unserem Vorhaben, die Verbreitung des Virus einzudämmen, unterstützt haben.

Wäre es daher vielleicht nicht sogar sinnvoll, nun viele Maßnahmen des "Social Distancing" für den Verlauf des Sommers auszusetzen oder zumindest abzumildern? Würde uns das Klima und die vergleichsweise hohe UV-Strahlung nicht dabei unterstützen, die Infektionszahlen im Rahmen zu halten?

Dabei würden wir gleichsam einem weiteren Lockdown vorbeugen, da die im nächsten Herbst/Winter zu befürchtende zweite Welle auf wesentlich mehr immunisierte Menschen treffen würde? In diesem Zusammenhang ist auch diese neuartige Reproduktionszahl R von besonderem Interesse. Wie genau sieht diese Zahl eigentlich für Menschen aus, die keine Symptome zeigen, im Vergleich zu Covid-19-Erkrankten mit massiver Symptomatik?

Und um auch diese Zahl genauer einordnen zu können, wie hoch genau war diese Zahl R, die in unseren Tagen so wichtig geworden ist, zu Zeiten des Höhepunktes der Influenza-Welle vor zwei Jahren?

Regionale Unterschiede

Wie sich Dinge im besten Vorhaben verselbstständigen, konnte man jüngst auch im Fernsehen beobachten, als eine Virologin zur Entfernung des sozialen Abstandes äußerte: Je weiter umso besser! ("Hart aber Fair", 04.05.2020, Minute 29 folgend).

Dies würde natürlich einer Minimierung des Infektionsrisikos absolut gerecht, aber nicht dem Umstand, dass es sich beim Menschen um soziale Wesen handelt, bei denen soziale Interaktion ein nicht zu unterschätzender Lebensbestandteil ist.

Ob ein soziales Leben und soziale Kommunikation beim Tragen von Atemschutzmasken in der Öffentlichkeit und bei gleichzeitiger Einhaltung maximaler Distanz zueinander noch möglich ist, kann man wohl schwerlich bejahen.

Führten wir ebensolches Beispiel konsequent fort, so müssten wir Tempo 30 im Automobilverkehr auch auf Autobahnen - bei maximalem Abstand zum Vorausfahrenden - zur Unfallminimierung einführen. Solche Beispiele müssten dann konsequenterweise auf alle erdenklichen Lebenslagen angewendet werden, bei denen Menschen potenziell zu Schaden kommen könnten.

Zusammenfassend ist es an der Zeit, epidemiologisch saubere Studien auf den Weg zu bringen, die klar herausarbeiten, warum dieser Virus regional gravierende Auswirkungen hatte, andere Gebiete, wie auch Deutschland, aber recht verschont gelassen hat.

Schweden und USA

In Schweden, das keinen Lockdown durchführte, wo die Schulen und Restaurants offenblieben, kann man die tatsächlichen Auswirkungen des Virus nachvollziehen. Schweden hat eine außerordentliche, aber keine verheerende Grippewelle zu beklagen, hat aber auch nicht unter den direkten wirtschaftlichen und sozialen Schäden eines totalen Lockdowns zu leiden.

Zudem muss die Bevölkerung nicht mehr in der ständigen Angst vor dem Virus leben bzw. davor, bald wieder in den nächsten Lockdown geschickt zu werden (dies wird in der hiesigen Debatte oft nicht beachtet).

Die außerordentlich starke Ausprägung der Corona-Welle in den USA und auch in England gilt es aber auch genauer zu untersuchen. Dabei wird es sicher nicht nur darum gehen können, was an dem Virus so gefährlich ist, sondern auch darum, welche demographischen Unterschiede bestehen, welche Unterschiede im Gesundheitssystem existieren, wie die Behandlung der Patienten erfolgte und ob und wie stark sich die Übersterblichkeit in diesem Jahr in all diesen Ländern darstellt.

Die befürchtete Überlastung der Krankenhauskapazitäten, wie aus Italien berichtet, die hierzulande als Argument für den Lockdown diente, mit dem Ziel, die Kurve der Erkrankten abzuflachen, blieb jedenfalls hierzulande bisher völlig aus und wurde auch weder in Schweden, England noch den USA tatsächlich erreicht.

Nötige Nacharbeiten

Es gilt also eine Vielzahl von Fragen zu beantworten, Forschung zu betreiben und klare Analysen zu treffen. Zu lange waren fehlende Erfahrung mit dieser neuen Situation und schiere Angst unsere Ratgeber. Zu wenige unterschiedliche Menschen aus zu wenigen verschiedenen Forschungsdisziplinen waren in die Entscheidungsprozesse involviert und die Medien haben durch ihre Berichterstattung eher für Panik in der Bevölkerung gesorgt, als dafür, diese mündig aufzuklären.

Sollten wir auf diesen Gebieten nicht entscheidend nacharbeiten, werden wir uns entweder immer wieder aus Angst vor Pandemien und Epidemien in unterschiedlichste Formen des Lockdown begeben müssen. Oder aber könnte es zum Kippen der Stimmung innerhalb der Bevölkerungen kommen, wie wir es leider in ersten Ansätzen schon am letzten Wochenende beobachten mussten.

Die Rolle des RKI

Und auch gilt es die Rolle des RKI deutlich und kritisch zu beleuchten. Natürlich sind die täglichen unermüdlichen Pressekonferenzen und geduldigen Erklärungen, insbesondere von Herrn Prof. Wieler, absolut lobend herauszuheben. Die Kernaufgaben des RKI sind allerdings die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere der Infektionskrankheiten.

Zu den Aufgaben gehört der generelle gesetzliche Auftrag, wissenschaftliche Erkenntnisse als Basis für gesundheitspolitische Entscheidungen zu erarbeiten. Wie kann es sein, dass das RKI, das seit vielen Jahren vor verschiedensten Pandemien warnt, so wenig auf eine tatsächlich auftretende Pandemie vorbereitet ist?

Keinerlei qualitativ brauchbare Studien waren vorbereitet, um den Verlauf einer Pandemie zu dokumentieren und zu untersuchen. Stattdessen wurde vielzählig und vorselektiert getestet (Kuhbandner 2020), was über die tatsächliche Ausbreitung und Gefährlichkeit wenig aussagt und es brauchte die Heinsberg-Studie des Bonner Professors Streeck (Streeck et al., 2020) um Klarheit über die tatsächliche Mortalitätsrate und Vorstellungen zur tatsächlichen Durchseuchung der Gesamtbevölkerung zu entwickeln.

Zudem ist es schwer nachvollziehbar, dass das RKI vor der Durchführung von Obduktionen an COVID-19 Verstorbenen explizit abgeraten hat. Fachleuten um Prof. Püschel aus Hamburg ist es zu verdanken, durch die von ihnen dennoch durchgeführten Obduktionen Einblicke in die Todesursachen von COVID-19 erlangt zu haben. Dabei kam heraus, dass alle Verstorbenen durchschnittlich 80 Jahre alt waren, mindestens an einer schweren Vorerkrankung litten und auffällig häufig Thrombosen zu ihrem Tode führten.

In den letzten Tagen mehren sich zudem die Meldungen, dass der Virus schon im Herbst 2019 seinen Weg nach Europa gefunden haben könnte und die Durchseuchung mutmaßlich schon wesentlich weiter fortgeschritten ist, als bisher vermutet. Zudem werden die Infiziertenzahlen auf umständlichsten Wegen und nicht an Feiertagen und Wochenenden von Gesundheitsämtern an das RKI übermittelt.

Wie kann dies im Internetzeitalter möglich sein und warum werden in deutschen Nachrichten auf die Zahlen der Johns-Hopkins-Universität (JHU) verwiesen, anstatt auf Zahlen eigener Behörden?

Es verwundert daher nicht, wenn eine Behörde, die es bis heute nicht geschafft hat, ihre Einheiten zeitgemäß zu vernetzen, bei der Einführung einer Corona-App nicht auf ungeteilte Freude stößt.

Festzuhalten gilt, dass die Coronavirus SARS-CoV-2 Pandemie sicherlich zu den schwereren Viruswellen der Neuzeit zu zählen ist. Von den absoluten Todeszahlen verhält sie sich dennoch - nach heutigen Stand der Dinge - lediglich wie regelmäßig auftretende Grippewellen der schwereren Art.

Ob daher der Umgang damit mittels weltweitem Lockdown tatsächlich gerechtfertigt ist, werden Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen aufarbeiten müssen. Die Auswirkungen dessen, was wir alle die letzten Monate miterlebt haben, werden uns allerdings sicher noch lange begleiten - vielleicht sogar lebenslang.

Dr. Dirk Moser ist Leiter des Molekularbiologischen Labors, Abteilung Genetic Psychology, Ruhr-Universität-Bochum.