Corona: Über Wahrnehmung und Wirklichkeit einer Epochenkrankheit

Bild: CDC

Das 21ste Jahrhundert ist bislang ein Zeitalter, das die paranoide Haltung (forciert durch die Möglichkeiten sozialer Medien) kollektiv eingeübt hat

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Wenn man der Verunsicherung des Urteils gewahr wird, die das Corona-Virus hervorgerufen hat, so ist ziemlich schnell eines klar: Sie hat ihren Grund nicht einfach in der Unbekanntheit des Virus, der Neuheit seines Auftretens, der Unvorhersehbarkeit seiner Wirkung.

Die Irritation darüber, dass (wie die Vereinten Nationen vermelden) mehr Menschen als Folge der durch die Pandemie ausgelösten Rezession an Hunger sterben werden als an den Folgen der Krankheit
- oder darüber, dass die deutsche Politik zwar das Richtige getan, also Grenzen geschlossen, das Tragen eines Mundschutzes verordnet und Bewegungsfreiheit begrenzt hat, nur eben wieder einmal viel zu spät, dafür aber gerade keine Kritik, sondern Lob erfährt
- die Merkwürdigkeit, dass die Weltgemeinschaft auf Covid-19 mit nie gekannter Entschiedenheit reagiert, während sie die jährlich 1,5 Millionen Verkehrtoten weltweit mit einer Mischung aus Passivität und Hilflosigkeit hinnimmt
- nicht zuletzt die Tatsache, dass ein Land wie Israel zwar gelernt hat, mit dem Terror zu leben, sich aber so ungeheuer schwertut, die Bedrohung durch das Coronavirus einzuschätzen
all das hat seinen Grund in dem Unterschied zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, also in der psychischen Verarbeitung eines Geschehens. Genau deshalb auch ist Politik schlecht beraten, bei der Bekämpfung des Coronavirus allein den Virologen zu vertrauen. Pandemien sind eben nicht nur seuchenmedizinische, sie sind auch psychologische und, da das Unbewusste hier eine entscheidende Rolle spielt, darf man sagen: psychodynamische Großereignisse. Diese Doppelnatur fasst der Begriff der Epochenkrankeit. Er beinhaltet die Überzeugung, dass manche körperlichen Krankheiten dazu geeignet sind, mehr noch als dem Zeitgeist dem Geist der Zeit und mit ihm einer überindividuellen Seelenlage Ausdruck zu verleihen.

Covid-19 ist eine solche Epochenkrankheit. Wie die Pest der frühen Neuzeit die Epochenkrankheit eines hygienefixierten Zivilisationsprozesses, die Hysterie um 1900 die Epochenkrankheit des materialistischen Zeitalters oder HIV die Krankheit der sexuellen Revolution ist, so ist auch Corona-Covid-19 die Krankheit einer Epoche, nämlich unserer.

Das vielleicht deutlichste Anzeichen dafür: In der äußeren, im Ausnahmezustand befindlichen Welt unserer Tage spiegelt sich der innere Ausnahmezustand des modernen (bereits in der Postmoderne totgesagten und daher ohnehin nur noch überlebenden) Ichs. Eine plötzlich fremdgewordene Welt, in der Nähe zu Gefahr und Isolation zum Idealzustand wird, korrespondiert sehr genau dem inneren Zustand des spätmodernen Ichs, dem nicht nur die soziale Welt, sondern auch die sprachlichen, kognitiven, psychischen und technischen Mittel seines Weltzugangs fremd geworden sind und das sein Dasein länger schon in einer unübersichtlichen, nur noch unter Vorbehalt verstehbaren, im Grunde fremden Welt fristet.

In dieser psychischen Notlage des spätmodenen Ichs wird nun unter den Bedingungen einer globalen Ansteckungsgefahr der Mensch dem Menschen zur Gefahr für Leib und Leben. Damit verändert sich dessen Selbstwahrnehmung. An die Stelle der Autonomie und Selbstbestimmung des modernen Ichs tritt nun seine Verletzlichkeit, die zu schützen die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist. Dies jedoch ruft die Erinnerung an etwas hervor, das jede staatliche Ordnung, so gut sie kann, verdrängt oder im sozial geregelten Wettkampf um knappe Ressourcen sublimiert: den Naturzustand.

Indem das Coronavirus die Abwehr gegen die Möglichkeit des Rückfalls in den Naturzustands außer Kraft setzt, setzt es eine unbewusste Angst frei; deren Erkennungszeichen ist in Zeiten geordneter Normalität die beständige Sorge des Ichs vor sozialer Zurückweisung. Im Ausnahmezustand der Pandemie jedoch trifft diese Angst das Ich mit ihrer natürlich-kreatürlichen Wucht und wird wieder zu dem, was sie unter den Bedingungen des Naturzustands immer schon war: Angst vor der eigenen Vernichtung durch den Anderen.

Diese durch die Gefahr der Ansteckung wieder aufgerufene Urangst verwandelt die Welt. Sie macht aus ihr einen feindschaftlichen Ort. Misstrauen wird ihr gegenüber zur einzig angemessenen Haltung; Nähe erscheint nun verdächtig; Gefahren lauern schließlich überall; vor ihnen gilt es auf der Hut zu sein, ständig. Das aber ist die misstrauische Haltung des Paranoiden.

Das 21ste Jahrhundert ist bislang ein Zeitalter, das genau diese paranoide Haltung (forciert durch die Möglichkeiten sozialer Medien) kollektiv eingeübt hat - in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, dem Finanzkapital, der sog. Flüchtlingskrise, aber auch der schleichenden Gefahr der Erderwärmung; die fremde Welt der Spätmoderne hat sich so unbemerkt in eine feindschaftliche Welt verwandelt.

Das Coronavirus führt nun vor Augen, dass die Gefahren, die in dieser Welt lauern, keine nur eingebildeten sein müssen. Nein, auch der Paranoide wird gelegentlich wirklich verfolgt. Er kann nur eben nicht mehr unterscheiden zwischen dem realen und dem eingebildeten Grund seiner Befürchtungen; denn Paranoia bedient sich der unbewussten Angst zur Steigerung der Realangst. Covid-19 ist die Epochenkrankheit einer paranoiden Spätmoderne deshalb nicht, weil von ihr keine reale Gefahr ausginge, sondern weil sie die Urteilskraft dadurch trübt, dass sie reale wie eingebildete Gefahren und eingebildete wie reale Gefahren erscheinen lässt.

(Dr. habil.) Christian Kohlross ist Kulturwissenschaftler, er arbeitet tiefenpsychologisch als Einzel- und Paartherapeut; von ihm als Buch zuletzt erschienen ist: "Kollektiv neurotisch. Warum die westliche Gesellschaft therapiebedürftig ist", Dietz, Bonn 2017.

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