Covid-19 und die Angst vorm Sensenmann
Seite 2: Deutschland im Dezember: 23 Prozent mehr Tote
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Im Lauf der folgenden Monate zeigt sich die Lage deutlich verändert. Während Euromomo für die 46. Kalenderwoche bereits – zum Teil von Neuem – eine hohe Übersterblichkeit für Belgien, Frankreich, Italien, Österreich und Spanien vermeldete (für die anderen europäischen Länder stellt das Netzwerk für diese Kalenderwoche maximal eine mäßige Übersterblichkeit fest), zeigt die Entwicklung in Deutschland nach oben und weckt Befürchtungen.
Was folgt: In der zweiten Dezemberwoche 2020 sterben in Deutschland 23 Prozent mehr Menschen als in demselben Zeitraum der vier Vorjahre. In Zahlen: In der 50. Kalenderwoche (vom 7. bis zum 13. Dezember) starben mindestens 22.897 Menschen, wie das Statistische Bundesamt mitteilt; das waren etwa 4.300 Sterbefälle mehr als in den Jahren 2016 bis 2019. Allerdings mit handfesten regionalen Unterschieden.
In Sachsen etwa, wo die Differenz seit Oktober wöchentlich zunahm, sei die Entwicklung weiterhin "besonders auffällig"; demnach lag die Zahl der Sterbefälle im betrachteten Zeitraum gut 70 Prozent (andere nennen über 80 Prozent) über dem Durchschnitt der Vorjahre. Brandenburg, Thüringen aber auch Baden-Württemberg verzeichneten Anstiege im zweistelligen Bereich.
Überalterung und Sterberate
Laut Statistischem Bundesamt muss man bei der Einordnung der Sterbefallzahlen berücksichtigen, dass sie von der Größe und der Altersstruktur der Bevölkerung beeinflusst werden. Konkret heißt das: Gibt es mehr Ältere, ist auch mit mehr Sterbefällen zu rechnen. 2020 waren laut Max-Planck-Institut für demografische Forschung 6,83 Prozent der Bevölkerung über 80 Jahre alt.
2016 waren es noch 5,75 Prozent, das ist ein Unterschied von 20 Prozent. Zum Vergleich: Die Altersgruppe der 35-59 Jährigen dagegen ist im selben Zeitraum um rund zwei Prozent geschrumpft. "Auch ohne Covid-19 würde es höhere Todeszahlen geben", sagt Göran Kauermann, Statistiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).
Um die Sterblichkeit der vergangenen Jahre miteinander vergleichen zu können, müssen die Todeszahlen ins Verhältnis zu der Altersverteilung innerhalb der Bevölkerung gesetzt werden (Altersadjustierung). Statistiker Kauermann von der LMU hat das mit seinem Team getan. Mit dem Ergebnis: Obwohl es mehr ältere Menschen in Deutschland gibt, sind die höheren Todeszahlen nicht allein durch diesen Anstieg zu erklären. "Wir haben vor allem im Dezember [2020] eine massive Problematik bei den über 80-Jährigen", sagt Kauermann; damit spricht er in nüchternen Worten einen Skandal an, der von fast allen Politikern mit glatten Worten weggebügelt wird.
Die Grafiken seines Instituts belegen, dass die Todeszahlen 2020 vor allem in den letzten Wochen des Jahres stark angestiegen sind. Die Behauptung, die erhöhte Zahl der Todesfälle sei durch die demographische Veränderung zu erklären, anders gesagt: durch die höhere Zahl der Alten, ist jedoch falsch. Die Älteren in der Bevölkerung sind zwar stark von Corona betroffen – bei den Jüngeren gibt es deutlich weniger Todesfälle –, aber sie machen nicht den Unterschied.
Projekt Codag: Analysen und Kritik
Die Covid-19 Data Analysis Group der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München (Codag) veröffentlicht in Abständen Berichte zur Lage, daran sind verschiedene Autoren beteiligt. Sieben solcher zeitnahen Berichte sind bislang erschienen, und es ist interessant, sie zu lesen.
Im Codag-Bericht Nr. 4 vom 11.12.2020 heißt es beispielsweise zum Thema "Todesfälle durch Covid-19": "Adjustiert auf die Einwohnerzahl zeigt sich keine ausgeprägte Übersterblichkeit". Es ergebe sich in der zweiten Welle der Pandemie bisher (dato 11. Dezember) keine herausstechende Übersterblichkeit, bei der jungen Bevölkerung zeige sich sogar eher eine Untersterblichkeit.
Es folgen klare Worte zu der Entwicklung der Fallzahlen bei den Hochbetagten: "Die bisherigen Corona-Maßnahmen verfehlen (den) notwendigen Schutz der Ältesten." Es zeige sich deutlich, dass die ergriffenen Maßnahmen (ab KW 45) zur Infektionseindämmung für die hochvulnerable Bevölkerungsgruppe nicht hinreichend zielführend seien.
Codag gibt auch einen kritischen Wink in Richtung der Art und Weise, wie die Öffentlichkeit während der Pandemie unterrichtet wird: "Die in der Öffentlichkeit am meisten beachteten Kurven der Neuinfizierten nach Meldedatum bilden das Infektionsgeschehen nicht valide ab, da neben den unerkannten Fällen die berichteten Meldezahlen dem eigentlichen Infektionsgeschehen aufgrund von Inkubationszeit und Meldeverzögerungen hinterherhinken."
Der Codag-Bericht Nr. 6 vom 7.1.2021 konstatiert noch einmal große Unterschiede zwischen den Bundesländern und betont, es gebe in Sachsen sehr starke Übersterblichkeit, jedoch mit und ohne Corona-Todesfälle.
Wie viele Infektionen bleiben unentdeckt? Wie hoch ist die tatsächliche Zahl der Infektionen? Die Dunkelziffer nennt der Bericht "die große Unbekannte"; zwar sei sie im Laufe des Jahres gesunken, nehme aber mit der zweiten Welle wieder zu.
"Kaum Wirkung"
Der jüngste Codag-Bericht (Bericht Nr. 7 vom 21.01.2021) geht auf die Wirkung des Lockdowns ein. Seine Analysen spiegeln wider, inwiefern die Wirkung des Teil-Lockdowns innerhalb von Deutschland sich komplett unterschiedlich zeigt. Insbesondere die Verschärfung der Maßnahmen Anfang Dezember zeigte kaum Wirkung, die Infektionen nahmen zum Teil zu.
Die Forderung nach bundeseinheitlichen Maßnahmen sei aufgrund der komplett unterschiedlichen Wirkungen und zum Teil auch Umsetzung dieser Maßnahmen in den einzelnen Bundesländern daher kritisch zu hinterfragen, sagen die Autoren. Sie haben auch nach den Effekten für die einzelnen Altersgruppen gefragt. Wieder sind es die Älteren, die besonders schlecht wegkommen. Der Bericht eindeutig: "In der Gruppe der 60- bis79-Jährigen beobachten wir in den meisten Bundesländern auch im Dezember einen Anstieg, gleiches gilt für die Über-80-Jährigen".
Fest steht: 2020 sind zum Jahresende mehr Menschen pro Woche gestorben als im Schnitt der Jahre 2016-2019.
Statistiker Kauermann sieht eine "aktuelle Übersterblichkeit", dies aber bezogen auf den Dezember. In Bezug auf die Jahresübersterblichkeit, so sein Fazit, werde sich aber herausstellen, dass 2020 kein herausstechendes Jahr sei. Das liege auch daran, dass in der ersten Corona-Welle im Frühling keine ausgeprägte Übersterblichkeit stattgefunden habe Ein weiterer Faktor: Bei der jüngeren Bevölkerung zeigten die Corona-Maßnahmen sogar positive Effekte.
2020 – "kein herausstechendes Jahr"?
Für eine Beurteilung der Jahresübersterblichkeit sind nicht nur die Covid-19-Toten relevant, sondern auch die relativ milde Grippewelle im Frühjahr 2020. Der Ausschlag Mitte August ist laut Statistischem Bundesamt auf gestiegene Todeszahlen aufgrund der starken Sommer-Hitzewelle zurückzuführen.
Dmitri Jdanov vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung beurteilt die Lage anders als sein Fachkollege Kauermann. "Wir können 2020 durchaus eine Übersterblichkeit beobachten", sagt er im Interview mit dem BR-Portal Faktenfuchs. Es sei nicht richtig, das Jahr 2020 mit den Jahren 2017 und 2018 zu vergleichen, weil damals durch die heftigen Grippewellen ungewöhnlich viele Menschen gestorben seien. "Das sind keine normalen Werte."
Lege man ein Jahr wie 2019 als Vergleichswert fest, wo die Grippewelle nicht so extrem ausgefallen sei, werde deutlich, dass 2020 ungewöhnlich viele Menschen in Deutschland gestorben seien. "Das ist ein Anstieg von um die sieben Prozent", so Jdanov.
Felix zur Nieden, Experte für die Sterbefall-Statistik beim Statistischen Bundesamt, sieht das Konzept der Übersterblichkeit vor allem zur Beschreibung von Saisonverläufen als sinnvoll an: "Wir haben sowohl im April, im August und seit Mitte Oktober deutlich erhöhte Werte gesehen (…). Um die Sterblichkeit des Gesamtjahres adäquat beurteilen zu können benötigen wir weitere Daten, die erst Mitte des Jahres vorliegen werden."
Resümee
Lässt sich die Frage nach einer "Übersterblichkeit" mit einem "Ja" oder einem "Nein" beantworten?
Zwar gibt es anteilig an der Gesamtbevölkerung mehr über-80-Jährige als 2016, dies allein ist aber nicht der Grund für die gestiegenen Todeszahlen. Besonders bei der älteren Bevölkerung zeigt sich laut Berechnungen der Statistiker an der LMU ganz klar ein Corona-Effekt. Gleichzeitig spielen die Corona-Maßnahmen eine Rolle, die bei jüngeren Bevölkerungsgruppen für weniger Tote gesorgt haben.
Man müsse die Sterbefallzahlen immer im Kontext der Maßnahmen sehen, sagt auch Felix zur Nieden vom Statistischen Bundesamt. "Wir können nicht sagen, was ohne die Maßnahmen passiert wäre." Durch die Einschränkungen im letzten Jahr reduzierte sich laut Statistischem Bundesamt zum Beispiel die Zahl der Verkehrsunfälle.
Außerdem führten die Corona-Maßnahmen und eine milde Grippewelle laut Statistischem Bundesamt zu weniger Grippe-Toten.
Experten und Statistiker sind sich darin einig, dass saisonal eine Übersterblichkeit zu beobachten war. Eine definitive Antwort auf die Frage der Jahresübersterblichkeit kann es aber erst Mitte 2021 geben, wenn alle Daten ausgewertet wurden. Dass Beobachter und Experten zum Teil unterschiedliche Sichtweisen auf die Übersterblichkeit haben, hat auch mit der Definition der Basismortalität zu tun und damit, dass in den Jahren 2017 und 2018 ungewöhnlich viele Menschen an der Grippe gestorben sind.
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