"Daniel Blake" in Deutschland
Seite 2: Grundsicherung im Alter
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Falls die Altersrente von "Daniel Blake" hierzulande so niedrig ausfällt, dass sie den Grundsicherungsbetrag (2020: 946 Euro) unterschreitet, kann er Grundsicherung im Alter beantragen, die der Sozialhilfe entspricht.
2016 gab es in Deutschland gibt es circa eine Million Alte und Erwerbsgeminderte, die auf das Sozialamt angewiesen waren. Dass damals nur drei Prozent der Rentner Grundsicherung im Alter (hohe Dunkelziffer!) bezogen haben, ließ keine Rückschlüsse auf zukünftige Entwicklungen zu.
Jeder Zweite verdiente so wenig (weniger als 2.350 Euro monatlich), dass er im Alter mit einer Rente unterhalb der Grundsicherung rechnen musste. Das war die frohe Weihnachtsbotschaft der Tagesschau am 24. Dezember 2016.
Daran hat sich bis heute nichts verändert. Am 25.6.2020 berichtete die Tagesschau11:
40 Jahre einzahlen und trotzdem weniger als 1000 € Rente im Monat herausbekommen, das ist die traurige Realität für 2,4 Millionen Rentnerinnen und Rentner.
Tagesschau vom 25.6.2020
Besonders niedrig ist die Rente für Frauen. Das trifft bei denen, die 40 Jahre eingezahlt haben, bei jedem dritten Rentner zu. Insgesamt bekommen von den 21 Millionen Rentnerinnen und Rentnern 17 Millionen eine Rente unterhalb von 1.000 Euro im Monat und fast jeder zweite sogar weniger als 800 Euro.
Um dies angeblich zu verändern, hat die jetzige Regierungskoalition eine Grundrente beschlossen12: Ab 2021 soll sie kommen, das entsprechende Gesetz ist seit Jahresbeginn in Kraft. Der Aufschlag auf Mini-Renten soll allen Rentnern zugutekommen, die gearbeitet und Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt, aber nur unterdurchschnittlich verdient haben.
Voraussetzung ist, dass sie mindestens 35 Jahre gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Etwa 1,3 Millionen Rentner könnten Anspruch auf die Grundrente haben, schätzt das Arbeits- und Sozialministerium, davon die große Mehrheit Frauen. Im Schnitt beträgt der Aufschlag 75 bis 80 Euro. So sehr auch dieser geringe Rentenaufschlag zu begrüßen ist, liegt es auf Hand, dass davon nur ein kleiner Teil der Bedürftigen profitieren wird.
Denn wenn 2030 mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer eine Rente unter dem Grundsicherungsniveau zu erwarten hat, ist dies ein unhaltbarer Sachverhalt, der zeigt, wie dringend der Handlungsbedarf ist, um armutsfeste Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung zu ermöglichen. Was in Österreich erreicht worden ist, sollte auch in Deutschland zu schaffen sein, wenn es wirklich politisch gewollt wird.
Auswirkungen der "Agenda-Reformen"
Folgende konkrete Auswirkungen der "Agenda-Reformen" sind also festzustellen:
- eine Kürzung des Krankengeldes um zehn Prozent;
- die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I;
- die Einführung des Arbeitslosengeldes II und des Sozialgeldes, auch Hartz IV genannt, auf Sozialhilfeniveau mit Auflagen und Sanktionsdruck auf Arbeitslose in Jobcentern;
- ein erschwerter Zugang zu Erwerbsminderungsrenten und die Kürzung und Abschaffung der früheren Berufsunfähigkeitsrente;
- die Abschaffung der vorzeitigen Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Altersteilzeit und
- die Senkung des Niveaus der Altersrenten, bisher um zehn Prozent und in der Perspektive bis 2030 um weitere 15 Prozent, mit einer zu erwartenden drastischen Zunahme der Altersarmut.
Ziel dieses sozialpolitischen Kahlschlags war, wie Gerhard Schröder 2005 in Davos mit Stolz verkündet hat, der Ausbau des Niedrig-Lohn-Sektors mit der Einführung der Mini- und Midijobs und der Ausweitung der befristeten Arbeitsverträge, der Zeitarbeit und der Leiharbeit.13
Damit handelt es sich bei den "Agenda-Reformen" um den größten Sozialabbau seit 1945. Dieser hat die Reichen in Deutschland noch reicher und zugleich diejenigen in der unteren Hälfte der Einkommensskala noch ärmer gemacht und führt bei weiten Teilen der Mittelschicht zu Abstiegsängsten.
Auch ein "Daniel Blake" in Deutschland würde zu den davon Betroffenen gehören. Deshalb würde es auch ihm in Deutschland wahrscheinlich heute schlechter gehen als noch vor 20 Jahren. Auch könnte er leicht in eine vergleichbare menschenunwürdige Lebenssituation hineingelangen, wie das in dem Film "Ich, Daniel Blake" in ergreifender Weise gezeigt wird.
Fazit
Die sozialpolitischen sogenannten "Agenda-Reformen" werden von der herrschenden Politik und den Haupt-Medien immer als alternativlos dargestellt. Da sie aber nicht Ausdruck von Naturgesetzen sind, sondern Folgen einer interessengeleiteten Politik der Herrschenden, sind sie im Prinzip auch veränderbar.
Auf einer fortschrittlichen sozialpolitischen Agenda müsste erstens die Wiederherstellung aller oben angegebenen früheren sozialstaatlichen Regelungen der "Agenda-Reformen" stehen.
Dabei dürfte klar sein, dass eine Politik für "mehr soziale Gerechtigkeit" nicht bei der Forderung nach einer Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I oder der Einführung einer Grundrente stehen bleiben darf.
Sondern sie müsste in ihrer Agenda auch die Aufstockung des Krankengelds, eine deutliche Erhöhung des Arbeitslosengelds II bei Abschaffung der Auflagen und Sanktionen, einen leichteren Zugang zur Erwerbsminderungsrente und die Wiedereinführung der Berufsunfähigkeitsrente, wie sie vor 2001 bestanden hat, eine deutliche Aufstockung des Niveaus der Altersrenten, die Einführung einer auskömmlichen Mindestrente, die Abschaffung der privaten Riesterrente und eine deutliche Erhöhung der Grundsicherung im Alter aufnehmen, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen, die nicht oft genug wiederholt werden können.
Um unser sozialen Sicherungssystem auch zukünftig sicher zu machen, wäre zweitens dessen Weiterentwicklung in Angriff zu nehmen, zum Beispiel durch die Einführung einer einheitlichen solidarischen Bürgerversicherung beziehungsweise Erwerbstätigenversicherung, die die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung umfasst und in die alle Erwerbstätigen ihre Beiträge auf alle erzielten Einkommensarten einzahlen müssen. Dafür gibt es von Fachleuten ausgearbeitete überzeugende Konzepte14 und heute schon eine sichere Mehrheit in unserer Gesellschaft.15
Der vorliegende Text ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Beitrags aus den Nachdenkseiten von 7/2017.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Nikotin-Tabakforschung e.V. (DGNTF) und arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. Email: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
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