Darwinismus im Cyberspace: Frisst das Internet seine Väter?

Auf der 10. Jahrestagung der "Internet Society" (ISOC) in Barcelona wurde deutlich, dass die "Kinder des Internet" andere Vorstellungen entwickeln als ihre Väter

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Als Vint Cerf bei der Eröffnung der ISOC-Jahrestagung, die vom 10.- 14. Mai 2004 stattfand, als "Vater des Internet" vorgestellt wurde, räusperte sich der in die Jahre gekommene amtierende ICANN-Chairman und zeigte in den mit fast 1.000 Internetexperten gefüllten großen Saal des Konferenzzentrums von Barcelona: "Das Internet hat viele Väter." In der Tat, seit Jahren waren nicht mehr so viele von denen, die die Internetgeschichte der frühen 70er und 80er Jahre geschrieben haben, unter einem Dach versammelt: Bob Kahn, Steve Bellovin, John Klensin, Steve Crocker, Mike Roberts, Brian Carpenter, Douglas van Houweling, Harald Alvestrand, Patrick Faltström, Jun Murai und und und...

Bis 2010 die Hälfte der Menschheit Online

Die mittlerweile wie Großväter aussehenden Gründer des Internet haben eigentlich allen Grund, stolz auf ihr Baby zu sein. 1984, zehn Jahre nach der Erfindung des TCP/IP-Protokolls, wurde der tausendste Internet Domain Name registriert. Damals war das eine sensationelle Zahl. Zwanzig Jahre später, im Jahr 2004, wird die Zahl der weltweiten Internetnutzer auf 750 Millionen geschätzt. Die Milliardengrenze wird irgendwann 2007 erreicht. Und wenn sich die Konvergenz zwischen Internet und Mobiltelefonie, davon gibt es auch schon 1.5 Milliarden in der Welt, weiter beschleunigt, wird 2010 die Hälfte der Menschheit online sein. Kein Medium hat sich je so schnell verbreitet.

Aber wie das so ist mit Kindern, kaum erwachsen, machen sie etwas, was ihren Eltern nicht nur Freude bereitet. Von Karl Marx wissen wir, dass "jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger" geht. Das Internet von heute ist schon lange nicht mehr das exklusive Netzwerk engagierter, aufgeklärter und verantwortungsbewusster Kreativköpfe, die als Pfadfinder im unentdeckten Cyberspace unterwegs sind und an einer Welt freier Kommunikation zum Zwecke der Selbstverwirklichung für jedermann basteln.

Immer neue Dienste und immer neue Nutzer haben die Entwicklung des Internet in eine Spiralentwicklung hineingetrieben, so Vint Cerf in Barcelona, die der Darwinschen Evolutionstheorie zu folgen scheint. Der Schwächere, der sich nicht an veränderte Umweltbedingungen anpassen kann, geht unter, der Stärkere überlebt. Die Allegorie, dass "der Flügelschlag eines Schmetterlings auf den Philippinen zu einem Tornado in Tennessee" führen kann, wurde früher gerne als eine witzige Bemerkungen in eine "Dinner Speech" für Banker und Börsianer eingebaut. Heute kann ein Oberschüler aus einem Dorf in Niedersachsen mit ein paar Mausklicks tatsächlich die englische Küstenwache lahm legen.

Die Kinder, die heute das Internet betreten, sind von anderer Couleur als es deren Väter waren. Für sie ist das "Netz der Netzwerke" keine Faszination mehr, es ist Alltag. Sie wachsen in dem Bewusstsein auf, dass jedermann und alles in der Welt "just one click away" ist.

William Mc Donough, ein US-Designer, der 1999 für seinen "Utopismus" vom "Time" Magazin zum "Helden des Planeten" gekürt wurde, brachte es auf den Punkt:

eGovernment, eCommerce, eLearning, eHealth, eContent: it is e-nough.

Es sei Unsinn, im Jahr 2004 noch zwischen "Business" und "eBusiness" zu unterscheiden. Die Wirtschaft lebt heute mit und im Internet, und wenn ein Unternehmer dies nicht tue, dann sei er mit dem Landwirt vergleichbar, der sich nach der industriellen Revolution der Mechanisierung der Landwirtschaft widersetzte und sein Kornfeld noch mit der Sense abmähte. Wenn wir nun über das Erschrecken, was im Internet alles an Vandalismus und Verbrechen, an Menschenverhöhnung und Menschenverachtung passiere, so fügte er hinzu, dann sollten wir nicht über das Internet erschrecken, sondern über unsere Gesellschaft. Das Internet sei nichts anderes als ein Spiegel dieser unserer Gesellschaft, so McDonough. Man könne den Spiegel zwar zerschlagen, das Spiegelbild verschwinde dabei jedoch nicht. Wem also etwas am Internet nicht passe, der müsse sich mit der Veränderung der Gesellschaft befassen.

Und mit jedem Schritt vorwärts in die lichten Höhen der Cyberwelt werden die dunklen Seiten sichtbarer: Viren und Würmer fressen sich durch den Cyberspace. 60 Prozent der weltweiten Emails sind Spam. Identitäten werden gestohlen, Konten geräumt, Nachrichten gefaked. Pädophile, Spanner und Nazis lauern überlall. Und es gibt bald keine Ecke mehr in der virtuellen Welt, in der nicht eine Werbebotschaft aufpoppt.

Der Idee der Gesellschaftsveränderung, die einst auch die Väter des Internet umtrieb, lockt deren Kinder aber eher ins Zentrum als an die Peripherie. Ging es den Vätern im 20. Jahrhundert um mehr Freiheit und Wissensmehrung, um P2P-Kommunikation und "Alle Macht den Nutzern!", so sehen die jungen politischen und wirtschaftlichen Eliten des 21. Jahrhunderts den Nutzer vornehmlich als Kunden. Rezentralisierte Kontrolle wird benötigt im Kampf gegen Terrorismus, Vandalismus und Verbrechen im Cyberspace und verbessert überdies die "business opportunities".

Kontrollieren ...

Das bürgerliche Freiheiten ihre Kehrseite haben, mussten nicht nur die Väter der französischen Revolution leidvoll erfahren. Insofern war es nicht überraschend, dass auch die neuen Freiheiten, die der grenzenlose Cyberspace bot, bald missbraucht wurden. Konnte man den Hackern der ersten Stunden noch einen gewissen "sportlichen Geist" attestieren, so sind die Cyberkriminellen des 21. Jahrhunderts, die Cracker, Identitätsdiebe und Vandalen, zu einer Landplage geworden, die jenen politischen Kräften in der Gesellschaft in die Hände arbeiten, denen ein "Law and Order"-Regime schon immer das beste aller Systeme schien.

Den dazu notwendigen Überwachungsapparat bietet das System der 200 000 vernetzten Netzwerke natürlich an Jeder "Mausklick" hinterlässt eine elektronische Fußspur, die zurückzuverfolgen zwar etwas aufwendig ist, aber, denkt man an Google, natürlich eine hohe Trefferquote ermöglicht, vorausgesetzt man scannt jede Website und jede Email auf Schlüsselworte und Begriffskombinationen.

Verbindet man das mit IPv6, ENUM, RFID, GRID und all den anderen neue Protokollen, Diensten und Endgeräten, dann ist die totale Informationsüberwachung zumindest kein technisches Problem mehr. Und, das lehrt alle historische Erfahrung, was technisch möglich ist, wird auch gemacht. Überdies ist dies ein grenzenloser neuer Markt: Entwicklung und Produktion von Überwachungstechnologie hatte 2003 einen Zuwachs von 50 Prozent. Hier schlummert ein Milliardengeschäft.

Dabei ist der Markt größer als die 180+ Regierungen dieser Welt, denn es muss nicht immer der Staat sein, der in unerträglicher Weise die Privatsphäre durchschnüffelt. Viel riskanter scheint mittelfristig die Ausspähung des Einzelnen durch private Unternehmen und Institutionen. Konsumentenprofile unserer Diensteanbieter können vielleicht noch dazu führen, dass wir tatsächlich einen besseren Service erhalten. Aber diese Daten können auch schnell zu einem interessanten Kaufobjekt für unsere Arbeitgeber, unsere Krankenversicherung, unsere Bank, unsere Konkurrenten oder all jene werden, die man nicht gerade zu seinem engeren Freundeskreis zählt: Vom falschen Freund und neidischen Nachbarn bis zur verflossenen Geliebten oder den Nebenbuhler.

Es war dann schon etwas verblüffend, mit welcher Leichtigkeit z.B. Nicholaj Nyholm, CTO von Asia Technologies Inc., in Googles neuem Gmail-Service eine tolle Sache sah, bei der Leistung und Gegenleistung stimmen. Erst jüngst hatte bei der Computer Freedom and Privacy Conference (CFP 2004) in Berkeley die Google-Justitiarin eingeräumt, dass sie natürlich bei Vorlage eines Verdachtsgrundes auf Nachfragen des FBI persönliche Daten der von ihnen gescannten Emails an die Justizbehörden weitergeben. Da aber im Cyberspace alles in "real time" stattfindet, bleibt die Prüfung der Validität des Verdachtsgrundes kaum mehr als eine theoretische Option und lässt das Risiko allein beim Nutzer, der sich der geballten Macht von Staat und Privatunternehmen ziemlich ohnmächtig gegenübersieht.

Cybercops als "public-private partnership"? Wie gut dies mittlerweile funktioniert, verdeutlichte jüngst die Ergreifung des Sasser-Produzenten. Ohne Microsofts "homepolice" hätten es die staatlichen Strafverfolgungsbehörden nicht geschafft. Und Microsoft-Leute waren sogar im Moment des Zugriffs an der Seite der Polizei. Der Mythos der Anonymität im Internet wurde damit einmal mehr entzaubert. Untertauchen in der virtuellen Welt ist ein immer schwierigeres Ding.

... und kassieren

Eine andere Illusion der frühen Jahre des Internet war die Vorstellung, alles sei frei. Milton Friedman hat uns wissen lassen, "that there is nothing like a free lunch, somebody has to pay for it." Die "Abschaffung des Geldes" im Cyberspace funktionierte nur solange, solange das Medium überschaubar und ein Kommunikationsmittel zwischen mehr oder minder Gleichgesinnten und Gleichgestellten war. In einem Netzwerk mit einer Milliarde Nutzern aber funktioniert das nicht mehr.

Das Paradebeispiel für das Zerbrechen eines auf wechselseitiger Vernunft basierenden Gleichgewichts ist der pestähnliche Spam, der das Internet-Mail-System kaputtzumachen droht. Es kostet praktisch nichts, eine Millionen Emails pro Tag zu verschicken. Wenn nur 0,001 Prozent der gespammten Empfänger vielleicht doch ein einziges Päckchen Viagra für 250.00 Dollar kaufen, sind das für den Spammer im Jahr eine runde Million. Vom Spammer zum Millionär?

Millionen Email-Nutzer haben damit zu tun, täglich die Konsequenzen dieses Geschäftsmodells aus ihrer Mailbox zu jagen oder zu riskieren, das rigide Filterprogramme nicht nur die virtuellen Hausierer rausschmeißt, sondern dabei auch noch andere Unschuldige mit erwischt, mit denen man durchaus gerne in Kontakt kommen möchte. Es sei ein Katz- und Mausspiel meinte Patrick Faltström von der IETF, bei dem es wie beim atomaren Wettrüsten im vergangenen Jahrhundert irgendwo in den Grenzbereich der totalen Verwüstung hineingeht.

Dieses System hat keinen Sinn, meinen nun die neuen Jünger des Internet. Ermahnung oder Regulierung helfen nichts, man muss ans Portemonnaie des Spammers. Erst wenn die Versendung von Mails ein Porto kostet von, sagen wir, 10 Cent, dann wäre eine Sendung von einer Million Mails für den Spammer unattraktiv. Und das gilt natürlich nicht nur für das millionenfache "freie Versenden", sondern auch für das millionenfache "freie Empfangen". Das Internet brauche primär eine ordentliche Ware-Geld-Beziehung, die Wertschöpfungsketten im Cyberspace müssen stimmen. Der Kunde sei zwar auch im Internet König, aber bitte im Rahmen der allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die Gelackmeierten sind hier die "ordentlichen Nutzer", denen die vorgeschlagene Verbesserung als Verteuerung in die Mailbox schlägt.

Internet von Morgen: Kapitalismus plus Kommunismus?

Dabei gibt es eine eigenartige Nähe der Kontroll- und Kassierkonzepte. Illustriert wurde das durch einen anderen Key-Note-Speaker in Barcelona: Zhan Ye, Gründer und CEO von GamesVision aus China. Er schilderte dem etwas verdutzten Publikum, wie er nach der "Legalisierung" von Online-Spielen durch die kommunistische Partei einen Subskriptionsdienst gestartet hat, der mittlerweile bei 80 Millionen Teilnehmern liegt (Internet auf Chinesisch?).

Jeder zahlt eine monatliche Flatrate von wenigen Dollar, die aber hoch genug ist, um den Jungkapitalisten in Rekordzeit zum Multimillionär zu machen. Er hätte, so Zhan Ye, aufmerksam die westlichen Geschäftsmodelle studiert und festgestellt, dass die nicht mit den chinesischen Wert- und Kulturvorstellungen übereinstimmen. Er habe daher die westlichen Erfahrungen mit den lokalen Bedingungen vermischt und der Erfolg seines innovativen Modells gibt ihm ja auch Recht. Und mit den 80 Millionen Kunden hat Zhan Ye noch nicht einmal sieben Prozent des chinesischen Marktes erobert. Ein gigantisches Wachstumspotential.

Auf die Frage, welche rechtlichen Rahmenbedingungen ihm denn dieses Geschäft erlaubten, sagte er, dass die einzige Auflage, die er habe, die sei, dass er den Inhalt der Spiele, die über sein Abonnement-Service online laufen, beim entsprechenden Ministerium lizenzieren lassen müsse. Das sei aber auch gut so. Auf diese Weise hätte er weniger Ärger, größere Sicherheit und es würden viele "böse Spiele" nicht zugänglich werden. Außerdem sei durch seinen Subskriptionsdienst, der teure Spiele relativ preiswert zugänglich macht, die Schwarzkopiererei von Online-Spielen in China auf ein Minimum gesunken. Das sei genau das, was WTO und WIPO seit langem von China fordern. Und so sind alle happy: Der Nutzer in Shanghai, die chinesische Regierung in Bejing, WTO und WIPO in Genf, die Online Game Industrie in den USA und natürlich auch Herr Zhan Ye.

Ist diese Vereinigung von Kapitalismus und Kommunismus das Modell, mit dem wieder Ordnung und Effizienz ins Internet gebracht werden kann? Rechnet man die heutigen Zahlen hoch, dann werden spätestens im Jahr 2010 mehr als die Hälfte der Internetnutzer aus China kommen. Und die haben ein anderes Kultur- und Freiheitsverständnis als es die "Netizens" der ersten Stunde hatten. Die Appelle der Internetväter, die hehren Ideale der Netiquette der 80er Jahre wieder zu beleben, wurden zwar in Barcelona mit viel Respekt aufgenommen, aber sie erschienen auch ein wenig wie der Aufruf Dantons an die Jakobiner, sich doch vor der Ingangsetzung der Guillotine der in der revolutionären Menschenrechtserklärung von 1791 verankerten Würde des Menschen zu erinnern.

Flucht nach vorn?

Was bleibt für die ehemaligen Patrizier des Internet, die nun von lauter Plebejern umstellt sind? Sie planen die Flucht nach vorn. Steve Crocker, der auch Vorsitzender des ICANN-Beratungssauschusses für die Stabilität und Sicherheit des Internet ist, schlug ein an IP-Adressen und -Domainnamen gebundenes Lizenzierungssystem vor, das einen Unterschied macht zwischen "trusted" und "untrusted" PCs und Netzen. Web- und Mailservice von "well managed computers" und "well managed networks" würden dann prioritär behandelt (vgl. Ende des Internet?).

Im Netzwerk der 200.000 Netzwerke, die heute das Internet konstituieren, würde praktisch ein "trusted Internet" für die höheren Stände implementiert. Die Frage, ob denn damit das Internet nicht eigentlich zerfalle in eine "Business Class", wo man "unter sich" ist, und eine "Economy Class", wo man mit Vandalen und Kriminellen Seite and Seite unterwegs ist, wurde ohne mit der Wimper zu zucken bejaht. Mike Nelson, jetzt bei IBM für die Zukunft des Internet zuständig und bis 1996 die rechte Hand von Al Gore im Weißen Haus, demonstrierte das an seinem Email System, das schon längst nur noch aus einer Liste von "friends of my friends" besteht.

Wohin das alles führt, weiß natürlich keiner. Es wissen weder die Internetväter, die immerhin nicht aufgehört haben, darüber nachzudenken, noch die Internetsöhne, denen ein bisschen mehr langfristige Visionskraft und weniger kurzfristige Interessenverwirklichung gut täte. Immerhin aber scheint eine Debatte dazu in Gang zu kommen.

Und sie wird zusätzlich stimuliert durch den Beschluss des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft/WSIS I (Genf, Dezember 2003), eine UN-Arbeitsgruppe zum Thema "Internet Governance" zu bilden (Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel). Der Schweizer Botschafter Markus Kummer wurde nun von UN-Generalsekretär Kofi Annan beauftragt, ein Sekretariat in Genf aufzubauen, das diese Arbeitsgruppe unterstützten soll. Dabei ist bereits die Bildung dieser Arbeitsgruppe mehr als ein schwieriger Balanceakt. Selbst ernannte Kandidaten für eine Mitgliedschaft in der Arbeitsgruppe stehen bei Kofi Annan und Markus Kummer bereits Schlange. Bis Juni 2004, so Kummer in Barcelona, soll der Chairman nominiert sein. Bis Oktober 2004 soll es die Gruppe als Ganzes geben. Diese hat dann ein knappes Jahr Zeit, um WSIS II, geplant für November 2005 in Tunis, Empfehlungen zu unterbreiten, wie denn das Internet der Zukunft nun regiert, verwaltet und/oder gemanagt werden soll.

Was eigentlich unter Internet Governance zu verstehen ist, darüber konnte man sich bei WSIS I nicht einigen. Man wolle zuhören, was die Experten zu sagen haben, hieß es damals. Nach der INET 2004 in Barcelona aber scheint es eher so, dass die Differenzen größer werden, je mehr die Experten sprechen.