Das Bad im verseuchten Fluss und andere Katastrophen

Irak: die Feinheiten der Zerstörung unter Saddam Hussein und zu Zeiten der Amerikaner

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Bei ihrer Einreise liegt der Irak liegt in Trümmern. Drei Monate „nach Beendigung der Kampfhandlungen“ (Bush) im Juli 2003 sucht Sihem Bensedrine, Redakteurin der in ihrem Heimatland verbotenen Internetzeitung Kalima (arabisch: Stimme), ihre irakische Freundin Nazera in den mit Müll verdreckten Straßen Bagdads.

Nach Ansicht Bensedrines hat die Zerstörung der irakischen, zivilen Gesellschaft, ihrer Identität und Lebensgrundlagen aber nicht erst mit dem Krieg von George W. Bush gegen Saddam Hussein begonnen, sondern 1979 bereits mit dessen Machtübernahme nach dem Rücktritt von Präsident al Bakr und dem Ausbau der Diktatur der Baath-Partei. Dabei wurden nicht nur die freien Künstler und Schriftsteller verfolgt, wenn sie in ihren Werken Saddam Hussein nicht priesen. Sie „verloren ihre Arbeitsstelle, ihre Existenz, verkauften ihr Hab und Gut und verließen das Land.“ Die, die trotzdem blieben, waren entrechtet und wurden zu opportunistischen Künstlern, um überleben zu können.

Die Elite im Land sei „tot“, so die tunesische Dissidentin Bensedrine bei einer Lesung in Hamburg. Diejenigen, welche die Brücken zur kulturellen Tradition und humanistischen Werten neu schlagen könnten - Freidenker, Journalisten, Oppositionelle -, wurden materiell und moralisch bis zur Selbstverneinung gedemütigt. Wer sich trotzdem seinen Freiheitsgeist bewahrte, wurde durch brutalste Folterungen zermürbt. Die Spitzel des Überwachungsstaates Husseins hatten die Aufgabe, jegliches ziviles Engagement im Keim zu ersticken. Dies sieht Bensedrine als einen wesentlichen Grund, warum sich die Gesellschaft nach der Befreiung von Diktatur und Besatzung nur schwer selbst aufrichten kann.

Liebe Nazera, (...) du schienst glücklich mit deinem Mann und deinen vier Kindern und mit deiner Arbeit als Ingenieurin. Ich habe dich bei meiner Reise nach dem Krieg von 1991 kennen gelernt. Du hattest bemerkt wie unwohl ich mich inmitten der Nomenklatura der Frauenorganisation fühlte und ludst mich heimlich zu dir nach Hause ein. (...) Deine Sanftheit wandelte sich in wütendes Toben und dein ganzer Ärger auf die Spitzel des Geheimdienstes entlud sich (...). In einem Strom von Worten, der sich wie glühende Lava aus deinem Mund ergoss, erzähltest du mir von den Leiden, die euren Alltag bestimmten (...) Du berichtetest von Kollektivstrafen und Verstümmelungen. (...) Du sagtest mir auch, dass jede Form von Widerstand zum Scheitern verurteilt sei und erklärtest mir, dass das Embargo gegen den Irak euch endgültig dem Baath-Regime ausgeliefert hatte, das die Lebensmittelmarken zuteilte (...). Auf einmal gab es in eurem Land Prostitution, Bettelei, Jugendkriminalität, all die Geißeln, die ihr bis dahin nicht gekannt hattet. Dein Stolz, Irakerin zu sein, war dadurch verletzt und du wettertest gegen die Amerikaner, die Briten und gegen Saddam. (...) „Von Gott und den Menschen verfluchtes Volk!“, schriest du in deiner Wut“.

Sihem Bensedrine in einem Brief an ihre Freundin Nazera vom 10.04.2003

Bensedrine, die sich angstfrei in den unsicheren Straßen Bagdads bewegt, hat im Vergleich zu westlichen Journalisten, die häufig der Sprache nicht mächtig sind, einen tieferen und direkten Zugang zur politischen Situation und Geschichte des irakischen Volkes. Sie sieht und versteht die Feinheiten der Zerstörung durch die Diktatur der Baath-Partei, die den irakischen Bürger in Armut gestürzt hat, obgleich der Irak aufgrund seiner Ölressourcen bereits zu Beginn der siebziger Jahre an der Schwelle zum Industrieland stand. Das übrige tat der Krieg mit seinen ökologischen und sozialen Folgen.

Der Krieg: eine ökologische Katastrophe

Sie erzählt von einem Spaziergang in der Morgendämmerung am Tigris, bei dem sie an das ehemals fruchtbare Zweistromland Mesopotamien mit den Flüssen Euphrat und Tigris denkt. Sie erinnert sich, dass von diesem Boden die älteste Kulturlandschaft der Erde mit der sumerischen Hochkultur um 3000 v.Chr. ausging, die die älteste Schrift der Menschheit, die Keilschrift, entwickelt hat. Heute ist das Wasser des Tigris, in dem Kinder sorg- und ahnungslos baden, und aus dem die früher mit Branntwein gewürzten, wohlschmeckenden Karpfen gefangen wurden, durch die Golfkriege verseucht. Aus der Wasseroberfläche ragt ein Schiffswrack in die Luft, um das sich eine weißliche, ölige Schicht gebildet hatte.

Das Oberflächenwasser ist durchsetzt von einem gefährlichen, krebserregenden Stoff, Urandioxidstaub, der ein radioaktives Abfallprodukt ist. Die Haltwertzeit des spaltbaren Uran- 238 beträgt 4,5 Milliarden Jahre. Dieser Staub wurde frei und setzte sich in den Rinden der Bäume ab, lagerte sich in die oberen Bodenschichten ein und verseuchte das Trinkwasser, als die amerikanischen Bodentruppen Geschosse mit uranhaltiger Munition mit einer Geschwindigkeit von 1.200 M/s auf irakische Panzer und Bunker abfeuerten, um diese zu durchschlagen.

Bensedrine kritisiert, dass die Amerikaner sich der Umweltbelastungen durch ihren Einmarsch zusammen mit den Briten gar nicht bewusst seien. Sie wissen nicht, dass das Leben im Fluss ausgelöscht ist, der früher bei Überschwemmungen ein ganzes Volk ernährt hat. Trotz der Warnungen von Menschenrechtsorganisationen, dass ein Einsatz derartiger Waffen die Bestimmungen der Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung verletzt und damit ein Verbrechen ist, hat sich die Bush-Regierung wenig darum gesorgt, ob die Menschen sauberes Trinkwasser und gesunde Luft und Böden haben.

Neben Leukämieerkrankungen und Chromosomenschäden bei britischen Kriegsveteranen seien die größten Opfer die Kinder, deren einziges Vergnügen die Erfrischung im gefährlichen Fluss ist. Und nicht nur das, auch die Erde, die sie mit ihren Füßen berühren, verbirgt immer wieder Sprengkörper und Reste von Streubomben, „die sie töten oder verstümmeln“, so die Dissidentin.

Schleierzwang und Chaos auf Bagdads Straßen

Die Beobachtungen Bensedrines, die seit 2002 in Hamburg als politischer Flüchtling lebt und zuerst Gast bei der Hamburger Stiftung für Politisch Verfolgte war, bevor sie von der internationalen Schriftstellervereinigung P.E.N. gefördert wurde, machen darauf aufmerksam, wo die Bomben überall ihre tödliche Wirkung gezeigt haben. Nach der Übergangsregierung und den freien Wahlen 2005 hat das schiitische Wahlbündnis „Vereinigte Irakische Allianz“ die Mehrheit der Sitze im Parlament erhalten. Damit stehen sich heute drei kontroverse, ethnische Volksgruppen gegenüber, die Sunniten, die Schiiten und die Kurden. Seit dem Sturz Husseins, suchen ihrer Ansicht nach die Menschen halt in der Religion. Hierdurch hat sich die Rolle der irakischen Frau in der Gesellschaft grundlegend verändert.

Bensedrine bemerkt, dass die Frauen vor dem Krieg 2003 „selbstbewusster und besser gekleidet“ gewesen sind. „Der Schwung der Frauen war einmal der Stolz der Nation“, sagt sie. Nunmehr habe die Frau im Irak völlig ihr Recht, am öffentlichen Leben teilzunehmen, verloren. Nur noch an den Universitäten sei ihre Präsenz gestattet, so Bensedrine. So erzählt sie von einem vier Augen Gespräch mit der Studentin May, die sich darüber beklagt, dass sie seit Ende des Krieges das uniforme Übergewand, hidjab, tragen muss, das die wichtigsten Körperteile der Frau (arabisch: awrah), nämlich die Haare und den Körper verdeckt. Dabei glaube die Studentin nicht, dass der Schleierzwang allein mit der Religion zu erklären sei.

Im Unterschied zu früher haben die Frauen nicht mehr teil am Leben der Stadt, und die jungen Frauen können nicht ohne Begleitung der Eltern ausgehen. Und das nicht nur wegen der Unsicherheit auf Bagdads Straßen, die nunmehr von rauschgiftsüchtigen Kinderbanden und Verbrecherbanden beherrscht werden. Dabei sei May selbst noch in einer privilegierten Situation, da ihre Verwandten sie zur Universität begleiteten, damit sie dort ihre Prüfungen ablegen könne. Manche ihrer Freundinnen hätten nicht so viel Glück. Aus Angst vor Entführungen würden ihre Familien sie zwingen, zu hause zu bleiben.