Das Hochspannungsnetz der Ukraine und seine Bedeutung für den Krieg

(Bild: Tom, Pixabay)

Stromnetze spielen eine wichtige strategische und machtpolitische Rolle. Das Netz der Ukraine ist für die EU und für Russland von Bedeutung. Warum Moskau es angreift.

In der Geostrategie sind Erdöl und Erdgas seit rund 140 Jahren wichtige Faktoren. Im Gegensatz dazu galt Elektrizität eher als lokale volkswirtschaftliche Grundlage und als lukratives Investitionsobjekt. Mit der Osterweiterung von NATO und EU wuchs die strategische Bedeutung der international verbundenen Hochspannungsnetze in Europa und Asien. Mittlerweile werden Hochspannungsnetze als eigenständige Faktoren in der Geostrategie und der Machtpolitik behandelt.

In dieser Hinsicht war es nicht unbedeutend, als der ukrainische Übertragungsnetzbetreiber Ukrenergo am Morgen des 24. Februar 2022 die Ukraine vom russischen und zentralasiatischen Verbundnetz (IPS/UPS) trennte. Der Schritt war zuvor angekündigt worden; er sollte eine vorbereitende Maßnahme sein, um das heimische Netz dauerhaft an den Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) anschließen zu können. Gemeinsam mit dem Nachbarn Moldau wollte man diesen Weg beschreiten und sich aus dem russischen Einflussbereich lösen.

Wenige Stunden nach der Trennung marschierte die russische Armee in der Ukraine ein. Offensichtlich hatte Moskau die Invasion auf ukrainisches Staatsgebiet als direkte Antwort auf die Trennung vorbereitet.

Weitere Schritte nach Beginn der Militäroperationen

Drei Tage befand sich das ukrainische Netz im Inselbetrieb, war also bislang nicht an das europäische angeschlossen und immer noch vom russischen getrennt. Am 27. Februar beantragte Ukrenergo dann die Notsynchronisation mit dem kontinentaleuropäischen Verbundsystem UCTE. Der moldauische Übertragungsnetzbetreiber folgte einen Tag später. Am Tag darauf erklärte der ENTSO-E, man arbeite an der Synchronisation.

Am 16. März war die technische Synchronisierung beider Länder mit dem europäischen Netz in Rekordzeit abgeschlossen. Am 26. April wurde Ukrenergo mit Beobachterstatus im ENTSO-E aufgenommen.

Zügige Integration der Ukraine in den europäischen Strommarkt

Über bereits bestehende Interkonnektoren konnte innerhalb kurzer Zeit ein Energiehandel zwischen EU und Ukraine realisiert werden. Im gemeinsamen europäischen Strommarkt wurde erstmals am 30. Juni 2022 eine 100 Megawatt (MW) Übertragungskapazität angeboten über die Verbindungsstelle zwischen der Ukraine und Rumänien. Die handelbaren Übertragungskapazitäten wurden seitdem mit Einbeziehung der Interkonnektoren Ukraine–Slowakei, Ukraine–Ungarn und Moldau–Rumänien schrittweise erhöht.

Der seit einigen Jahren unter dem Namen Energomost projektierte Interkonnektor zwischen Rzeszów und Chmelnyzkyj wurde auf der 400-Kilovolt-Spannungsebene neu aufgebaut und am 27. April 2023 wieder in Betrieb genommen, obwohl dieser ursprünglich von der polnischen Regierung nicht erwünscht war.

Derzeit läuft der Stromhandel mit Kapazitäten von 1200 MW Import in das Stromnetz der Ukraine und von Moldau. Die Exportkapazität beträgt 400 MW. Für den grenzüberschreitenden Stromhandel sind diese Werte relativ gering im Vergleich zu den Austauschkapazitäten zwischen den Marktgebieten der UCTE-Kernregion und viel geringer als die Erzeugungskapazität der Ukraine.

Die zügige Umsetzung der Synchronisation und der Marktintegration kann insbesondere verstanden werden als Demonstration der großen Fähigkeiten und des guten Willens der Akteure der europäischen Strommärkte.

Die langjährige Vorgeschichte

Die sogenannte Notsynchronisation war ein Schritt zur geplanten Einbindung der Ukraine in den gemeinsamen europäischen Strommarkt. Wie der Westen und die Ukraine dabei vorgingen, wurde bereits vor dem Krieg im Jahr 2021 von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer Studie dargelegt. Die Stiftung steht dem Bundeskanzleramt nahe.

Aus dieser Studie stammen die Zitate der folgenden Stichpunkte:

  • 2005 unterzeichneten die EU und die Ukraine ein Memorandum of Understanding über "eine vollständige Integration der Energiemärkte der EU und Ukraine", das "2016 erneut bestätigt wurde".
  • "Im Juni 2017 unterzeichneten die Netzbetreiber der Ukraine (Ukrenergo) und Moldaus (Moldelectrica) mit dem Verband der europäischen Stromnetzbetreiber (ENTSO-E) eine […] Vereinbarung über die künftige Stromanbindung." Darauf basierend gab Ukrenergo den Plan bekannt, im Winter 2021/22 von IPS/UPS zu entkoppeln und im Jahresverlauf 2023 mit UCTE zu synchronisieren.
  • "Die USA und die Ukraine haben die Integration der Ukraine ins europäische Netz in ihrer Charta über strategische Partnerschaft erwähnt."
  • "Als Kompensation für die Zurückhaltung der USA, Sanktionen gegen Nord Stream 2 zu verhängen, hat sich Deutschland gegenüber Washington bereit erklärt, die Ukraine zu unterstützen."
  • "Die Strom- und Wärmeproduktion des Landes ist von russischen Nuklearbrennstäben ebenso abhängig wie von regelmäßigen Kohle- und Gaslieferungen aus Russland."

Auf der sicherheitspolitischen Ebene war allen beteiligten Seiten die von Boris Jelzin angekündigte sogenannte rote Linie bekannt. "Moskau hat […] deutlich signalisiert, dass Bemühungen um eine stärkere Integration mit Europa russische Gegenmaßnahmen zur Folge haben können". Offensichtlich war der Schwenk des ukrainisch-moldauischen Hochspannungsnetzes weg von IPS/UPS hin zu UCTE ein Schritt über die rote Linie.

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