Das Netz ergreift Partei (2008 bis 2010)

Von Links und rechtsfreien Räumen - Folge 5/5

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Was bisher geschah.

IT-Grundrecht

Anfang 2008 platzte eine Bombe. Nicht etwa eine der unzähligen Sprengkörper, die aufgrund von "Bombenbauanleitungen im Internet" gebastelt oder von Karawanen arabischer Terroristen ins Land gekarrt wurden, um stündlich ein anders Ziel hochzujagen ... Keine Geringeren als die Richter des Bundesverfassungsgericht selbst hatten es krachen lassen: Man hatte in Karlsruhe ein neues Kommunikationsgrundrecht entdeckt.

Während noch die Innenminister mit immer neuen Überwachungsvorschlägen um den Big Brother-Award wetteiferten und nunmehr im siebten Jahr in der virtuellen Terrorspirale zirkulierten, hatten die Richter in Karlsruhe unter ihren roten Hauben kühle Köpfe bewahrt - sowie die vom Grundgesetz vorgegebenen Werte "Kommunikationsfreiheit" (Art. 10 GG) und "Unverletzlichkeit der häuslichen Wohnung" (Art. 13 GG). Die immer weitergehenden Begehrlichkeiten und die ausbleibenden Erfolge im Kampf gegen die (angeblichen) Terroristen hatten schließlich im Wunsch nach der heimlichen Onlinedurchsuchung gegipfelt. Hiergegen hatten wachsame Bürger Verfassungsbeschwerde erhoben.

Bundesverfassungsgericht. Foto: Tobias Helfrich. Lizenz: CC-BY-SA.

Nun aber gab es aus Karlsruhe richtig Lack. Im in Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG verorteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht sahen die Karlsruher Richter weit mehr als nur eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Hamburger Medienanwälte. Das Bundesverfassungsgericht forderte einen "unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung" - und die fand im Jahre 2008 nun einmal zu einem Großteil am Rechner statt, wo man selbst privateste Angelegenheiten digital einzuspeisen pflegt.

Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen.

Jedoch gab es diese konkreten Bedrohungslagen offenbar nicht. Vom propagierten Sicherheitsbedürfnis hatten in erster Linie die Sicherheitsindustrie und -Behörden profitiert. Der Präsident des Inlandsgeheimdienstes namens "Verfassungsschutz", der zum tatsächlichen Risiko am ehesten hätte etwas sagen können, bekam ausgerechnet für die richterlichen Verfassungshüter keine Aussagegenehmigung. Der Statistik zufolge jedoch war das Risiko, an einem verschluckten Kugelschreiber zu ersticken, dramatisch größer, als an einem Terroranschlag ums Leben zu kommen. Also nahmen die friedfertigen Verfassungsrichter ihre Kugelschreiber aus dem Mund und unterschrieben das umfangreiche Urteil. Als neue Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schufen sie ein "Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme". Nunmehr gab es so etwas wie eine "E-Handlungsfreiheit".

Und so zerlegte Karlsruhe ausgerechnet dem eingefleischten Internetphobiker Jürgen Rüttgers dessen NRW-Onlineüberwachungsgesetz und ließ ihn wissen, das Internet sei auch ihm gegenüber kein "rechtsfreier Raum", vielmehr sei es angefüllt mit Grundrechten. Und Herrschaften, die nicht einmal das Grundrecht zu lesen verstünden, mögen bitte erst recht nicht in anderer Leuten Computer herumlesen.

PC-Rundfunkgebühren

Irgendjemand in den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern stöpselte versehentlich das gebührenfinanzierte Rundfunkprogramm an das Internet an, bekam jedoch den Stecker nicht mehr aus der Buchse. Da nunmehr mit jedem PC die öffentlich-rechtlichen Inhalte zu empfangen waren, erkannte man diese als "neuartige Rundfunkgeräte". Über Nacht wurden aus Millionen von rechtschaffenen Internetnutzern unfreiwillig schwarzhörende Schmarotzer. Diese Provokation konnten sich die Rundfunkhäuser natürlich nicht bieten lassen und setzten die Eintreiberorganisation GEZ in Marsch, es diesen Schmarotzern mal so richtig zu zeigen. Ob jemand die Sender hören wollte oder nicht, jeder Besitzer internetfähiger Rechner hatte fortan sein Scherflein beizusteuern, damit Millionäre wie Jauch und Gottschalk noch mehr Gebühren bekämen und die Champions League endlich vom Privatfernsehen befreit würde (wo man sie erfunden hat).

Der Schmarotzer gab es nicht nur private, denn zwischenzeitlich war jeder Gewerbetreibende verpflichtet, seine Umsatzsteuererklärung per Internet abzugeben. Wer hierzu nicht gerade ein Internetcafé aufsuchen wollte, musste folglich einen internetfähigen PC sein Eigen nennen. Diese aufdringlichen Begehrlichkeiten fand 2008 das Verwaltungsgericht Wiesbaden unverschämt. Das Bundesverwaltungsgericht jedoch sah 2010 keinen erheblichen Unterschied zwischen konventionellen Empfangsgeräten und eben den neuartigen. Es ließ ausrichten, der Gesetzgeber möge es richten, falls er es anders sähe. Da fließende Geldquellen grundsätzlich ungern gestoppt werden, steht vorerst nicht zu erwarten, dass die Legislative handeln wird. Im Gegenteil interessiert sich die GEZ bereits heute für den Besitz internetfähiger Handys, die nach Plänen der Politik bald sogar eine volle GEZ-Gebühr auslösen sollen.

User Generated Content

Auch jener Hamburger Anwalt, der 1998 das legendäre Urteil von Hamburg zur Linkhaftung erwirkt hatte, wollte nicht fehlen, wenn es um das Verschärfen der Haftung für Äußerungen Dritter ging. Als jemand in einem privaten Wiki dessen angebliche Verdienste um das Ende des Vereins "Freedom for Links" würdigte, mahnte der Anwalt den Betreiber ab und stellte eine Rechnung, um die man sich nun stritt. Das Amtsgericht Hamburg ging schon Ende 2008 davon aus, dass es eine Haftung erst ab Kenntnis einer problematischen Äußerung geben könne, und wies die Klage auf Abmahnkosten ab.

In der Berufung kam die Pressekammer des Landgerichts Hamburg jedoch auf die Idee, der Betreiber des Wikis hätte sich die nachts von Fremden eingestellten Inhalte im Voraus(!) zu Eigen gemacht, weil er seine Leser zur Mitwirkung aufgerufen habe (was aber bei Wikis nun einmal das Funktionsprinzip ist). Weiter meinte der Landrichter, auch der Titel "Mein ....buch" deute darauf hin, dass es die Meinung des Betreibers sei (was bei Meinungen Dritter schon eine merkwürdige Deutung ist). Daran, dass der Betreiber im Gegenteil ausdrücklich zu Meinungsvielfalt aufgerufen hatte, die er in der konventionellen Wikipedia vermisste, störte sich das Landgericht Hamburg nicht.1

Heute allerdings ist es allgemeiner Konsens, dass eine Verantwortlichkeit erst ab Kenntnis des Forenbetreibers angenommen werden kann, wie etwa das Amtsgericht Hamburg 2008 klarstellte. Wenn allerdings ein Blogpost provozierend war oder der Betreiber Kenntnis eines toxisch gewordenen Forums hat, sodass mit krassen Entgleisungen gerechnet werden muss, ließe sich durchaus Pflicht zur Vorabkontrolle begründen. Das Problem ist jedoch, dass man bei Vorabkontrolle mit manueller Freischaltung in jedem Fall Kenntnis hat und dann Äußerungen zugerechnet bekommt, deren Brisanz man nicht erkannt hat, etwa weil man den Wahrheitsgehalt einer Äußerung nicht beurteilen kann.

Ebenso wenig mutete das Landgericht Berlin Online-Buchhändlern eine Vorabkontrolle ihres Angebots auf Urheberrechtsverletzungen der Verlage zu. Auch der Bundesgerichtshof hat jüngst eine Haftung für Portalbetreiber wegen eingestellter Bilder von der Kenntnis abhängig gemacht, soweit Filtersoftware nicht erfolgsversprechend ist.

Inwiefern das Lehrerbewertungsportal Spick-mich.de für Inhalte haftbar war, bedurfte keiner Klärung, weil der BGH in der konkret verhandelten Äußerung schon keine Persönlichkeitsverletzung erkennen konnte.

Auch Ebay & Co. hatten noch immer unter Angeboten der Nutzer zu leiden, die Fälschungen usw. unter dem Markennamen anboten. Der BGH sah Ebay hier allerdings als professionellen Anbieter in der Haftung, da Verkaufsplattformbetreiber aufgrund ihrer Erfahrung mit solchen Kuckuckseiern rechnen müssten. Da sie eine Provision verdienten, sei ihnen auch ein gewisser Aufwand zuzumuten, Rechtsverletzung zu vermeiden. Salomonisch entschied der BGH jedoch, dass Stichproben sowie automatische Stichwortfilter, die bei Markennamen ausschlagen, ausreichend seien, während eine manuelle Vorabkontrolle etwa von eingestellten Bildern nicht zumutbar sei.

2005 hatte der Video-Hoster Youtube das Internet betreten und bot eine kostenlose Datenschleuder, die in Wild West-Manier jeglichem Urheberrecht Hohn sprach. Fünf Jahre lavierte man sich mit eigenen und fremden Regeln durch einen "rechtsfreien Raum", bis das Landgericht Hamburg Youtube, das inzwischen Google gehört, in die Haftung für die von den Nutzern eingestellten Videos nahm. Youtube mache sich durch Einblenden des Logos die Videos zu Eigen und die von ggf. anonymen Nutzern erklärte Behauptung der Urheberschaft sei dann doch ein bisschen zu billig, um sich aus der Haftung zu stehlen.

Beim Mitbewerber Sevenload, wo jemand fremde Musikvideos geparkt hatte, sprach das Landgericht Hamburg eine begehrte Unterlassungsverfügung aus. Das Hanseatische Oberlandesgericht sah jedoch bei Sevenload kein Zu-Eigen-Machen, vielmehr könne der Betrachter aus der Art der Platzierung erkennen, dass es sich prinzipiell um Content von Dritten handele. Eine Urheberrechtsverletzung sei zwar zu löschen, jedoch erst ab Kenntnis.

Dem Bloghoster Blogspot, der ebenfalls nun zu Google gehört, mutete zunächst das Landgericht Hamburg zu, ab Kenntnis der Beanstandung einer fragwürdigen Äußerung zu löschen. Das Hanseatische Oberlandesgericht verlangte jedoch über die bloße Beschwerde hinaus eine hinreichend substantiierte Abmahnung, aus welcher der technische Verbreiter einen Löschungsgrund nachvollziehen könne. Bei dieser Gelegenheit stellte das Gericht klar, dass auch eine entsprechende Haftung für Snippets grundsätzlich nicht infrage käme.

Inzwischen ist das weniger differenzierende Landgericht Hamburg umgekehrt dazu übergegangen, Bloggern das Einbinden von Youtube-Videos mit Beiträgen etwa von TV-Sendern zu verbieten, wenn darin angebliche Persönlichkeitsrechtsverletzungen enthalten seien.2 Diese Wertung ist insofern bemerkenswert, als dass der BGH den Hamburgern die Verbreiterhaftung etwa bei Interviews aus der Hand genommen hat und 2010 ja auch dem Heise-Verlag bescheinigte, dass das Setzen von Links von der Presse- und Meinungsfreiheit geschützt ist. Warum sollte dies bei Einlinken von Youtube-Videos anders sein?

Der Gesetzgeber hat die Haftung für User Generated Content noch immer nicht reguliert, denn er hatte Schlechteres zu tun: Er wollte das Internet mit DNS-Sperren staatlich zensieren.

Internetsperren

Rüttgers und seine Getreuen Ursula von der Leyen und Wolfgang Schäuble gaben nach dem Machtwort aus Karlsruhe ihren Kampf gegen das Internet nicht auf. Jener Hort des Bösen sollte durch Filter nach den Vorstellungen der CDU geformt werden. Die Zugangsprovider sollten bestimmte Domains sperren, und alles würde gut. Der inzwischen herangewachsenen "Generation Internet", auch "Digital Natives" genannt, reichte es langsam. Nicht nur, dass die albernen Sperren kinderleicht zu umgehen waren und daher ein weltfremdes technisches Verständnis der Politiker offenbarten, vor allem Anmaßung der Politiker zu Zensur sowie die leicht durchschaubaren Begehrlichkeiten der Content-Industrie, eine Internetsperrinfrastruktur für ihre Zwecke nutzbar zu machen, führten zu Empörung. Doch selbst die Grünen, die in ihren frühen Tagen mit dem Thema Datenschutz ihrer Zeit weit voraus gewesen waren, stießen ihre Wähler vor den Kopf, da andernfalls die Kinderpornographiekeule drohte. Die selbige schwingende Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen avancierte durch ihr kompromisslose Verteidigung der Internetzensur zur wohl meist gehasstesten Frau im Internet - nach Marion.

Die schwedischen und dann die deutschen Netizens nahmen vorweg, was sich Anfang 2011 in den arabischen Ländern vollziehen sollte. Man organisierte sich jenseits der etablierten Medien und Meinungsträger im Internet und formierte sich zu einer politischen Bewegung, die bei den Europawahlen 2009 auf Anhieb 1% der Wählerstimmen holte. Obwohl die "Piratenpartei" bewusst auf einen Personenwahlkampf mit populären Identifikationsfiguren verzichtete, stahlen die Nerds den etablierten Parteien bei der Bundestagswahl immerhin gut 2%, wo sie auch ungefähr bei den folgenden Landtagswahlen rangierten. Sie überholten mit ihrer exponentiell steigenden Mitgliederzahl spielend die etablierten Zwergparteien. Waren es vorher die politischen Parteien, die Hand an das Internet legen wollten, war es nun das Internet, das Partei ergriff und seinen Fuß in die Tür des Gesetzgebers stellte.

Alle Expertenmeinungen tapfer ignorierend propagierten Adelige wie Frau von der Leyen und Herr "Dr." zu Guttenberg nebst Gemahlin Netzsperren als alternativlos - Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger jedoch am 05.04.2011 als sinnlos. Auch auf EU-Ebene hat zumindest das juristische Personal Verstand.

Weitere Kostproben der neuen plebiszitären Informationsmacht boten der Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler, der sich auf ihn kritisierende Blogger berief, sowie der des Verteidigungsministers und Möchtegernkanzlers zu Guttenberg, dessen Doktorspiele vom Internet unter Sperrfeuer genommen wurden. Weitere in die Internet-Rasterfahndung geratene akademische Opfer folgten.

Gewisse Websperren wurden jedoch ausgerechnet im Mutterland der Meinungsfreiheit, den USA geschaltet: Dort blockte man etwa auf dem iPad die Website der deutschen BILD-Zeitung, weil diese täglich ihre Leser auf S. 1 über sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale zu informieren pflegt. Auf US-Regierungsrechnern, etwa solchen der freies Wissen kultivierenden Congress-Bibliothek, wurde ausgerechnet eine Website gesperrt, die für Informationsfreiheit wie keine andere steht: WikiLeaks.

"Information wants to be free"

Diese leicht anarchistische Website hatte vor ein paar Jahren begonnen, das Globalisierungsprinzip der Wirtschaftskriminellen zu kopieren, indem sie die Lücken der einen Rechtsordnung gegen die der anderen ausspielte. Das Projekt WikiLeaks3 war angetreten, ein virtueller "Geheimdienst des Volkes" zu sein und staatliche Zensur mit den technischen Mitteln des Internets zu überwinden. Das Zeitalter, in denen Regierungen und andere Mächtige ihr Volk verrieten, sollte beendet werden. Jedem Whistleblower stand nun im Internet ein elektronischer Briefkasten für zensierte Dokumente offen.

Auf Luxus und Ballast wie vorgeschobene Persönlichkeitsrechte, staatliche Geheimhaltungsansprüche und instrumentalisierte Urheberrechte nahmen die Macher, deren Identität bis auf wenige Ausnahmen ein streng gehütetes Mysterium blieb, keine Rücksicht. Anwälte, Staatsanwälte und Geheimdienstoffiziere hatten schlicht und ergreifend nicht einmal eine physische Adresse, an die sie eine vollstreckbare Unterlassungsverfügung hätten schicken können. Das dezentralisierte Projekt der teils nomadisierenden Betreiber war so programmiert, dass eine einmal veröffentlichte Information nicht wieder gelöscht werden konnte - wie es auch dem Wesen des Internets nun einmal entspricht. 2010 schrieben WikiLeaks und dessen geheimnisvoller Protagonist Weltgeschichte.

Persönlichkeitsrecht

Nachdem das Landgericht Hamburg von Beginn an die Menschen, die ihre grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit im Internet ausgelebt hatten, auf jede erdenkliche Weise gegängelt hatte, maßte es sich 2003 an, auch noch zu bestimmen, was die Leute für interessant halten dürften und was nicht. Als diese unglaubliche Bevormundung dem Bundesverfassungsgericht auf den Tisch kam, platzte den Richterinnen und Richtern in Karlsruhe 2010 der Kragen: Derlei deute "auf ein grundlegendes Fehlverständnis des Gewährleistungsgehaltes der Meinungs- und Pressefreiheit hin." Man ließ die hanseatischen Richter mit deutlichen Worten wissen, es könne nicht Aufgabe der Gerichte sein, zu entscheiden, ob ein bestimmtes Thema überhaupt berichtenswert ist oder nicht. Das Selbstbestimmungsrecht der Presse oder auch des journalistischen Laien als Trägers der Meinungsfreiheit umfasse, den Gegenstand der Berichterstattung frei zu wählen.

Das Bundesverfassungsgericht fand außerdem, dass man den einen oder anderen Politiker ruhig einen "Dummschwätzer" nennen dürfe.

Ein Sprachexperte namens Bastian Sick entdeckte beim Googlen, dass einer der ausgeworfenen Textfetzen (Snippets) einen falschen Eindruck erweckte. Er nahm die Suchmaschine einstweilen beim Berliner Kammergericht in zweiter Instanz erfolgreich auf Unterlassung in Anspruch. Wie eine Suchmaschine jedoch mit Ironie und Ausschnitten umgehen sollte, war unklar. Ebenso, welche Leser denn im Ernst von einem Snippet überhaupt eine redaktionelle Leistung erwarteten. Das Landgericht Berlin hob das Verbot Anfang 2010 wieder auf. Erstaunlicherweise lehnt sogar das Landgericht Hamburg die Haftung für Snippets ab, ebenso die Instanz.

Die gefürchteten "rechtsfreien Räume" im Internet gibt es insoweit tatsächlich, als dass nationales Recht sich dann schwerlich durchsetzen lässt, wenn eine Website im Ausland gehostet wird - wo kein Beklagter in Reichweite, da kein Richter. Dies gilt insbesondere für die deutschsprachige Wikipedia, die in den USA gehostet wird, wo sich deutsche Urteile nicht so recht vollstrecken lassen.

Das Landgericht Hamburg hatte seit einigen Jahren Medienunternehmen untersagt, die Namen von Mitmenschen, die als Mörder von Walter Sedlmeyr verurteilt worden waren, in ihren Online-Archiven zum Abruf bereit zu halten. Dies unterlaufe den Resozialisierungsanspruch, der ca. ein halbes Jahr nach Rechtskraft einer Verurteilung die Namensnennung verbietet. Während sich namhafte Pressehäuser mit dieser Rechtsprechung abfanden und die Archive flöhen wollten, zog es das Deutschlandradio bis zum BGH durch, wo man dieser Zensur einen abschreckenden Effekt auf den Gebrauch der Meinungsfreiheit beimaß.

Während dem Landgericht Hamburg in den letzten Jahren häufig u.a. aus Karlsruhe der Vorwurf gemacht wurde, bei der Auslegung von Äußerungen den Kontext nicht oder nicht hinreichend einzubeziehen, scheint sich wenigstens insoweit die Pressekammer vorsichtig dem geltenden Recht anzunähern.

Vollmacht?

Das Landgericht Düsseldorf sorgte mit einer Entscheidung für Rechtsunsicherheit, in der es einem Abmahner die Kosten versagte, weil er keine Originalvollmacht vorgelegt hatte. Etliche Abmahnopfer wähnten sich daraufhin im Glück, hatten sie doch vielfach manchmal sogar lediglich eine läppische E-Mail bekommen. Außerhalb von Düsseldorf beurteilt man jedoch diese Frage nach wie vor anders. Ein Abgemahnter kann zwar die nachträgliche Vorlage einer Originalvollmacht verlangen, nutzen tut ihm diese Förmelei wenig. Um sich derartige Diskussionen zu ersparen, legen professionelle Abmahner dennoch häufig eine Vollmacht bei. Und die bekamen 2008 reichlich zu tun.

Filesharing

Der "Sommer unseres Lebens" endete im Herbst 2008, als der neue § 101 UrhG in Kraft trat. Die Musikindustrie, an der 90% der Umsätze der eigentlich Kreativen kleben bleiben, hatte nun ein mächtiges Instrument in der Hand, um endlich sparsame Musikfreunde Mores zu lehren. Das Landgericht Köln vertrat die bemerkenswerte Auffassung, das erstmalige zum Abruf Bereitstellen eines Musikalbums rechtfertige die Annahme eines "gewerblichen Ausmaßes" im Sinne des § 101 Abs. 9 UrhG und empfahl sich damit als Hausgericht, an welches fortan die Kanzleien in Waschkörben ihre Anträge schickten. Derartige Schnüffelei gilt übrigens in fortschrittlichen Ländern wie der Schweiz als unfein. Die Sektkorken in der Abmahnindustrie knallten, als der BGH die Haftung für durch WLANs entfleuchende Musik beschloss.

Mit der Zeit keimte der Verdacht, dass manch ein Kulturschaffender den eigentlichen Umsatz nicht auf konventionelle Weise, sondern quasi als eigenes Geschäft betreibt, was sich für den Stand der Anwälte als Organe der Rechtspflege nicht so recht schickte, zumal sich die Frage nach Rechtsmissbrauch stellte. Ein geleaktes Fax enthielt ein unanständiges Angebot, das den Schluss nahelegt, entsprechende Advokaten seien auf eigenes Risiko tätig, die Rechteinhaber erhielten eine Provision. Als dieses ruchbar wurde, mahnte ein Abmahnanwalt einen tadelenden Kollegen ab, wohl in der Hoffnung, ihn zum Schweigen zu bringen. Der Versuch ging nach hinten los.

Vorratsdatenspeicherung

Während die "Vorratsdatenspeicherung" von WikiLeaks in der Internetgemeinde großen Zuspruch fand, verfolgten etliche Menschen den staatlichen Überwachungswahn mit Sorge. Zu diesen besonnenen Menschen zählten auch wieder einmal die weisen Richter des Bundesverfassungsgerichts, die 2010 die Politik erneut in die Schranken wiesen.

"Internetrecht"

Nachdem die IT-Juristen eineinhalb Jahrzehnte im Schweiße ihres Angesichts um das Recht des Internets gerungen hatten, blieb endlich Zeit zur Klärung der Frage, wem denn eigentlich die Buchstabenfolge "Internetrecht" gehöre. Das Landgericht Berlin ließ 2008 ausrichten, der Fachbuchtitel "Internetrecht" könne keinen Titelschutz beanspruchen. Der siegreiche Beklagte schenkte sein Werk dem Internet.

Der Autor verneigt sich vor allen tapferen Frauen und Männern, die in Sachen Internet den Rechtsweg beschritten und in wichtigen Fragen zu Ende gingen, um uns durch ihr Opfer Erkenntnis zu spenden!

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