Das Netz ist das Leben, Gott der Provider, Jesus der Browser

Jesus Freaks und christliche Punks missionieren via Internet

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Einst sangen die Dead Kennedys, eine der einflussreichsten Punkbands Amerikas, im Song "Nazi Punks – Fuck Off": "punk ain't no religious cult, punk means thinking for yourself." Spätestens Ende der 80er Jahre galt diese Aussage als überholt. Bands wie Cro-Mags oder Youth of Today, deren Mastermind Ray Cappo heute bei Shelter singt, versuchten als Hare Krishnas Teile der wenig homogenen Szene zu missionieren. In Deutschland haben die Jesus Freaks seit Mitte der 90er ähnliches vor.

Konzert auf Freakstock

"Wir denken, dass Jesus sich in besonderem Maße den Kaputten, Fertigen, Kranken, Abhängigen, Verarschten, Verstoßenen, Armen zugewandt hat, denen, die außerhalb der Wertnormen dieser Gesellschaft liegen. Darum wollen wir mit unserem Verein 'Kirche' für solche Leute möglich machen," so die Jesus Freaks. Ursprung und Mindbase der Bewegung ist Hamburg, getauft wird in der Alster. Da "junge ausgeflippte Leute" meist ungern von der Amtskirchen empfangen werden oder deren Messfeiern nichts abgewinnen wollen, schuf man sich nach dem Vorbild freikirchlicher Gemeinden und amerikanischer Jesus People eigene Strukturen.

Diese erlauben es dem gläubigen Punk nun die innig geliebte "Livemugge" oder dem Raver seine Technoparty mit Christsein und dem "Godi" zu verbinden. Vollsuff und Drogenrausch gelten, im Kontrast zum allgemeingültigen Bild, dass beides zum Sound fürs "abgetötete Gehörs" passt, als Sünde. Regionale Gruppen, die "ein radikales Leben mit Jesus als das Coolste, Feurigste, Intensivste und Spannendste überhaupt" ansehen, haben sich mittlerweile in ganz Deutschland gebildet.

Trotz der "ausgeflippten" Ansichten ist die Standardlektüre der Bewegung ganz die alte: "Für sie ist die Bibel wörtlich zu nehmen, ohne Abstriche an den historischen Zeitgeist der Entstehungsphase," schrieb das "Journal für Jugendkulturen", herausgegeben vom Archiv der Jugendkulturen in Berlin. Nicht jedem modernen Treiben, wie etwa dem Surfen im Internet – "Das NETZ ist das Leben. GOTT ist der Provider. JESUS der Browser" –, können die Jesus Freaks deshalb etwas Positives abgewinnen. Homosexualität gilt bei ihnen als Sünde und "Krankheit, die nur von Gott geheilt werden kann," so das "Journal" weiter. Zumindest das unterscheidet sie wenig von einigen Punks und Hardcorelern religiöser Pionierzeiten:

Die New Yorker Hare Krishnas Cro-Mags brandmarkten 1987 auf dem Inlett ihrer LP "The Age of Quarrel" neben Sex, Kindesmissbrauch, Spielsucht, Fleischfabrikation und Drogensucht die Homosexualität als Böses; der Sänger der praktizierenden Rastafaris Bad Brains – farbige Musiker aus New York, die Reggae mit Punk mischten – erklärte im selben Jahr dem Trust: "Gott lehrt uns in der Bibel, wenn ein Mann seine Männlichkeit verliert, wird er zu einem wilden Tier. (...) Es wäre nicht gut für mich, mich in der Nähe von so jemanden aufzuhalten (...), das wäre nicht gesund. Er könnte Aids oder Herpes oder eine andere unmoralische Reaktion haben."

Freiheit dem Fundamentalismus

Die 20jährige Helen, im Juli 2000 Praktikantin in einer Online-Reiseagentur, erklärte dem "Journal für Jugendkulturen" damals: "Die Bibel ist für mich Gottes Wort, da gibt es nichts dran zu rütteln. Für mich ist die Erde in sechs Tagen erschaffen worden und nicht durch Evolution entstanden, weil das ist Gottes Wort, und Gott geht über unserer Verstehen." Andere Freaks, etwa die Snow- und Skateboarder von King Jesus, sprechen etwas laxer vom "Guide" mit den "Rulls". Ähnlich spielt man auch mit Slogans und Motiven aus der linken Szene.

Der Refrain der linksradikalen Ton Steine Scherben etwa wird ergänzt: "Macht kaputt, was euch kaputt macht: Sünde!". Ähnlich wie eine zeitlang in linken Kreisen T-Shirts der "Terror Force 2000" zu sehen waren, gibt es solche der "Jesus Terror Force". Aus der antifaschistischen Faust, die ein Hakenkreuz zerstört, wird eine, die das Wort "Sünde" zerdeppert. Daraus politische Ziele abzulenken, wäre allerdings der falsche Schluss, denn es geht um Alles oder Nichts: Missionieren für Jesus. Protest artikuliert sich denn auch anders als bei der Linken: "Die Freaks gaben an, Schröder zu einem Gottesdienst einzuladen und mit ihm diskutieren zu wollen," schreibt Matthias Krause nach der Störung einer SPD-Wahlkampfveranstaltung.

Einladungen zum Gebet gibt es aber auch in anderer Form: D-Day 2001 will Jesus aus der Kirche holen und da hinbringen, wo man ihn am wenigsten vermutet." Gemeint sind Kneipen und Discos. Ein ähnliches Ziel hatte sich im letzten JahrThe Convoy gesetzt. Höhepunkt ist aber das einmal jährlich stattfindende Open Air Megaevent Freakstock, im Juli im thüringischen Gotha von Tausenden von Freaks zwischen Pubertät und Erwachsensein "zelebriert". Eine "der größten Jesus Partys" soll es werden, vom "Mornin'praise" übers "Jesus-Hauptseminar", dem "Feldkloster", fünf Konzertbühne und einem "Drum'n'Bass-Club" reicht die Palette. Seinen Ursprung hat das Festival in kleineren Hallen, 1996 etwa gastierte es in Wiesbaden.

Iro oder Heiligenschein? Gott sei Punk...

Anfang der 80er Jahre sangen deutsche Punks "Religion ist Opium für das Volk" (Slime), "Gott ist tot" (Inferno) oder vom "feisten Pfarrer" der über "Gott und die Welt" spricht (Oberste Heeresleitung). Auch heute gilt das Gros der Punks als antireligiös. Allerdings hat sich innerhalb der Subkultur eine Subkultur gebildet, die Gott preist. Christcore umschreiben ihren Sound "als dreckigen, primitiven, ungehobelten und leidenschaftlichen Old-School Punk".

Dass solche Bands in besetzten Häusern rocken, sich und ihr Publikum mit Bier bespritzen, scheint mehr als abwegig. Christcore etwa zählen sich zu den Jesus Freaks Celle, die verkünden: "...und Du wünschst Dir, dass irgend jemand zu Dir kommt, Dich in den Arm nimmt und einfach nur lieb hat. (...) GOTT kommt zu Dir" und "bietet Dir an, auf seinen Schoß zu kommen", zum "ankuscheln und ausheulen." Songs jener Kuschler tragen Titel wie "Burn for You", "Jesus Mr. Universe" oder "Erwecke mich". Von Rumpelkammern wie Unreal, Headnoise oder Civil Defense reichen die Styles bis hin zu Emorockern und "Noise-Poppern" wie Fall Down Marigold.

Was Bands und Lieder eint, ist nicht nur der Glaube, sondern auch das, was die "Alternative-Punk-Rocker" Fade Out kritisieren: "Von der VIVA geprägten, abgestumpften Kulturlandschaft werden wir in die Schublade der Krawallcombos gesteckt." Damit gibt es kaum Airplay, die sich die Jesus Freaks aber aus dem Netz saugen können, etwa im Christian Pirat Radio oder The Fish 95.9 fm.

Anders auf sich aufmerksam machten die Jesus Skins, über deren Single "8 Fäuste für ein Halleluja" das beängstigend unchristliche Fanzine Plastic Bomb schrieb: "Kombinieren in ihren Texten auf unglaubliche Weise Skinhead-typische Prügel-Sauf-Texte mit christlichen Themen.". Ob als Persiflage, sei mit einem grinsenden Blick auf die Texte zu spekulieren erlaubt: "Oi-Punk und Gewalt – ein Prosit auf den Herrn / So wie die drei Könige folgen wir dem Stern / Wir tragen Boots und Braces, denn so hat's Jesus gern / Für uns ist es Oi-Musik – für euch ist es nur Lärm."

Ein Gründungsmitglied der Band, "Judas" nämlich, machte nach dem ersten Auftritt "seinem Namen alle Ehre, er brannte mit einem großen Teil der Einnahmen durch und vertrank das Geld in der Großstadt, obwohl dieses Geld eigentlich der christlichen Jugendarbeit in Südafrika zukommen sollte." Schon 1996 hatte Manfred Otzelberger in der taz einen Florian zitiert, der beim "Abhängeabend" fränkischer Freaks erzählte: "Es war bei einem Konzert, das von Skinheads gestört wurde. Da ging ein Mädchen zu denen hinüber und legte ihnen die Hand auf. Sie hörten auf mit der Randale." Fraglich, ob auch die Jesus Skins so bekehrt wurden.

Vereinbarungen, Bekehrung und Heilung

Living in Jesus wünschen jedem Besucher "Gottes Reichen Segen." Die White-Metaler Siegeskrone prüfen die Gäste: "Jesus Christus ist der Sohn Gottes. Er ist Mensch geworden, gestorben und wiederauferstanden. Das ist Tatsache und nicht wegzudiskutieren. (...) Wenn du meinst: 'Blödsinn!', nimm den linken Weg." Ansonsten aber ist man herzlich willkommen. Und die Hanseaten warten auf ihrer Homepage mit einem Bekehrungszimmer und der freexxxPics-Site auf. Dass sich dort hinter dem Begriff "Griechisch" kein Analsex befindet, schmälert das Surferlebnis wohl nur für Gäste.

Ähnliche Unberührungsängste zum Unchristlichen hat auch Kenny Mitchell. Der Drum'n'Bass-DJ legt in Clubs, beim Freakstock und auf der Love Parade auf. Grund? "Langsam merken die Leute, dass Jesus die meiste Zeit unter Leuten verbracht hat, die ihn brauchten. Und das war auf Parties, mit Alkohol und Prostitution, mit schlechten Menschen, Spielern und Hooligans. Er hat 'ne Menge Zeit mit diesen Leuten verbracht. Er hat deren Verhalten zwar nicht gut geheißen, aber er hat ihnen einen anderen Weg gezeigt." Einige Absätze weiter im Interview mit dem "Journal für Jugendkulturen" wird Mitchell dann fast selbst zum Herrn:

"Vor ein paar Jahren gab es in England einen großen Rave, und Gott antwortete auf mein Gebet. Da war ein Typ auf Krücken, der kam rein, der war deprimiert und saß in einer Ecke. Den ganzen Tag habe ich gebetet." Wegen eines gerissenen Beinmuskels habe der Fremde "absolut" nicht ohne Krücken stehen können, bis er sie weg warf. "Und am Ende der Nacht sah ich ihn tanzen," so der DJ. "Also, ich hatte einige coole Erfahrungen, dass Gott Dinge getan hat, Leute geheilt hat. Wenn ich in einen Club komme, dann komme ich nicht alleine. Ich komme mit Engeln und mit Gottes heiligem Geist."