Das Scheitern der Neuen Linken

Seite 4: Mittelschichtdenken

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Das nimmt nicht wunder, prägt doch das Sein unerbittlich das Denken. Die heute links-grünen Kinder der alten 68er sind faktisch in der Mittelschicht aufwärts gelandet, häufig formal sehr gut ausgebildet, verdienen ihren Lebensunterhalt oft als Lehrer, Sozialarbeiter, in der Kultur- oder Kreativindustrie (wie Werbung und Marketing heute heißen) oder in den Medien, also in eher geschützten, der rauen Arbeitswelt prima vista nicht so deftig ausgesetzten, dafür das Selbstbewusstsein aufwertenden Bereichen.

Insofern hat die 68er-Linke den Marsch durch die Institutionen (Rudi Dutschke) geschafft, sitzen ihre Kinder mittlerweile an den Drehpunkten der Meinungsbildung. Da lässt sich gut Wasser predigen und Wein trinken. An sich wären links-grüne Postmaterialisten Freunde von Ökologie und einer sanften Nutzung der Natur. Im Alltagsleben sieht das häufig anders aus. Die Vielflieger sind in erster Linie Grünwähler und dann die Wähler der Linken. Postmaterialismus heißt heute nicht mehr, auf Konsum zu verzichten - er sollte nur distinktiv, irgendwie qualitätsvoll und von der Ingroup, vom Netzwerk akzeptiert sein.

Ihre Freude an der Elektronik, oft als Apple-Fans, am "Gesunden", an Diversity und Multikulturalität, teilen sich die Links-Grünen mit den Silicon Valley-Milliardären und deren Mitläufern. In einem solchen neoliberalen Verständnis hat Diversity jedoch gar nicht so wenig mit geförderter Ungleichheit, Exzellenz und transhumanistischer Überschreitung zu tun, was meistens und gutgläubig übersehen wird. Links-grün gerät so naiverweise nach rechts.

Egozentrismus, Narzissmus und zwangsneurotisches, sektenhaftes Verhalten sind dann ebenso typisch für links-grüne Befindlichkeiten wie für Silicon Valley-Milliardäre. Desgleichen sind regressives Beleidigtsein, Aggressivität und Diffamierungslust, wenn man sich nicht gleich durchsetzen kann, als soziopathische Muster bei Rechtsradikalen, also den verhassten Nazis, nicht wesentlich anders. Zwei Seiten derselben armseligen Münze.

Antifa, Autonome, Punks

Diese ziffernmäßig recht kleine Erbengruppe der 1968er Bewegung erfreute sich lange Zeit einer Duldungsstarre seitens ihrer ins System gewanderten links-grünen Kollegen und Sympathisanten. Ein paar tausend Menschen, die der Gesellschaft, also dem Kapitalismus und Konsumismus, nun wirklich feindselig gegenüberstehen. Häuser besetzen ist besser als Miete zahlen und dafür unverhältnismäßig viel arbeiten müssen, solcher Widerstand wäre gewissermaßen Menschenrecht. Dazu systemferne Musik, soweit das in Anbetracht der alles aufsaugenden Kulturindustrie überhaupt noch möglich ist, ein alternatives Leben führen wollen - das macht sie zu autochthonen Erben der 68er-Linken. Dazu gehört auch lautstarker Protest und Gewalt gegen konsumismustypische Sachen, wie die Porsche- oder Mercedes-Autos der heutigen Wohlhabenden (Mittelschicht), also der Profiteure des kapitalistischen Ausbeutungs- und Unterdrückungssystems.

Natürlich ist hier im Alltag vieles unscharf und breit gefächert - das geht vom kindischen Protest durch Hauswand-"Verschönerungen", über die sofort und stolz in "Linksunten" ( in Folge der Hamburger G20 Straßenkämpfe mittlerweile gesperrt) rapportiert wird, über die klassischen Hausbesetzungen, bis hin zu einer als links deklarierten hooliganartigen Zerstörungslust. Mitunter wirkt das permanente Nazi-Labeling wie eine Zwangsstörung und manche Bekleidungsform wie Mummenschanz. Aber es ist immerhin eine durchgehaltene, authentisch antikapitalistische Lebensweise, so zumindest der Eindruck von draußen. Ebenso ist, anders als bei der angepassten links-grünen Mehrheit, hier die Staatsskepsis, die Ablehnung staatlicher Strukturen (der Einzelne als Gefangener des Staats), noch sehr tief ausgeprägt.

An sich eine profund verwurzelte Denkfigur der Neuen Linken seit den 1960er Jahren, hat sich das bei der Mehrheit der links-grünen Postmaterialisten längst in eine neue Staatsgläubigkeit und Verbotskultur transformiert. Begleitet wird dies von der typisch deutschen, angstgetriebenen ("German Angst") Sucht, sich die Verhältnisse immer aufs Neue schön zu reden.

Besonders sichtbar wurde das im rasch umgedrehten Verhältnis zur Europäischen Union: Aus EU-Skeptikern wurden über Nacht brave EU-Gläubige, die im EU-Pseudoparlament mit dem internationalen militärisch-industriellen Komplex kollaborieren. Antifa, Autonome (und wie sie sich sonst noch nennen) befinden sich dem gegenüber nach wie vor in einer Totalopposition und bleiben insofern authentischere Nachlasswahrer der alten Neuen Linken.

Gemeinschaftsmenschen?

Gemeinsam ist den zwei Erbgruppen der alten Neuen Linken das betagte sozialistische Ideal, aus (proletarischen) Individualisten und Eigenbrötlern neue Gemeinschaftsmenschen zu erziehen. So einzelgängerisch waren aber die Arbeiter um 1900 und zwischen den Weltkriegen gar nicht. Das war eher eine Projektion, mit der störrische Individualität weggeschafft werden sollte und die auch intensiv an den Faschismus heran reicht; bei der Vergötzung des Gemeinschaftlichen gab es wenig Unterschiede zwischen links und rechts.

Die links-grüne Mehrheit hat dieses Gemeinschaftsmenschliche durch wohliges und mildtätiges Gruppengefühl ersetzt, bei der Antifa-Szene ist es noch eher "handfest" zuhause. Bei beiden jedoch strikt auf die In-Gruppe und daher besonders Schützenswerte beschränkt - die Anderen sind und bleiben "Nazis", "Arschlöcher" und "Dreck", dem man "in die Fresse" hauen muss, oder weiße Männer bleiben eben "Tiere".

Mit der Gender- und Respektshysterie kommt schlussendlich die einst mühsam errungene Liberalität in der Sexualität ins Wanken. Im Umfeld von #aufschrei oder #metoo springt eine alte bürgerliche Sexualfeindlichkeit, die vielen wohl noch immer im Bauch zu stecken scheint, hoch. Eine ängstlich-neurotische "sprich mich nicht an"-Haltung, die das einstmals befreite und mitunter leider manchmal übergriffig Spielerische von Erotik (das war die große Befreiung vor fünfzig Jahren), durch alten schwermütigen Ernst, fromme Biederkeit bzw. explizite zivilrechtliche Vereinbarung redimensioniert und ersetzt. Dazu passt vorzüglich, wenn die Multikulti-"Zeit" weibliche Verschleierung als Emanzipation) begreift.

Restposten vom schlechten Gewissen

Für die Postmaterialisten ist die Antifa der letzte Restposten des schlechten Gewissens in Hinblick auf eine einmal gänzlich andere Idee von Gesellschaft. Das sichert eine gewisse Narrenfreiheit, oft sanftes Verständnis in der medialen Berichterstattung und manche kleine kommunale Förderung. Das war es dann schon - die große Mehrheit der Bevölkerung kann mit diesen "Linksradikalen" nichts anfangen und kommt damit in der Gegenperspektive unter obsessiven Faschismusverdacht. Eine Überlebenschance wird sich für jene wohl nur dann ergeben, wenn die Entwicklungen der migrantischen Parallelgesellschaften unbehindert bleiben, dann überleben wahrscheinlich die Nischen neben den Slums. Das scheinen sie ähnlich zu sehen.

Die regressiv-juvenile, ja: kindische Oberflächlichkeit und Aggressivität der "kalifornischen Ideologie" hat ein hübsches Gegenstück in der links-grünen Weltsicht. Dazu empfiehlt sich ein Blick in das aktuelle rot-rot-grüne Berliner Koalitionspapier, wenn man die Worthülsen und traditionellen Propagandafloskeln damit ruhiggestellter SP-Konservativer weglässt. Zusammengeschriebenes E-Gouvernement, Genderieren und eben noch mehr Genderforschung, Regenbogenfahnen, sowie oberflächlich Zeitgeistiges ersetzen ernsthaftes Nachdenken, profunde Gesellschaftskritik und authentische linke Politikansätze wie etwa die alte Einkommensgerechtigkeit. Es bleibt rosa-grün veganer, postmaterialistischer Brei oder, wenn man mag, nachhaltige "diskursive Dummheit"2, die sich der Einsicht und dem Dialog versperrt. So wird das leider nichts mehr mit einer anderen, nämlich einer halbwegs gerechten und einigermaßen freien Gesellschaft für Alle.