Das Schreckgespenst der "feindlichen Übernahme" durch den Islam ...

Seite 2: Haben sich die Befürchtungen anlässlich früherer Einwanderung bestätigt?

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Die Beurteilung der Einwanderung von Katholiken und der von Juden aus Osteuropa in die USA folgte einem gleichen Muster: Jeweils wurde die neue Einwanderergruppe von den vorherigen Einwanderern unterschieden. Beide Male lautete die These. Die früher eingewanderten Migranten wiesen eine kulturelle Nähe zur Gesellschaft auf, in die sie kamen. Die Hauptgruppe der gegenwärtigen Einwanderung ist nicht fähig zur Integration. Ihre Werte und ihre Kultur sind unüberwindbar fremd.4

Gewiss gab es zunächst massive Unterschiede zwischen Einwanderern und der Bevölkerung des Landes, in das sie zogen. "Noch 1909 waren fast 26% der amerikanischen Juden Analphabeten, im Vergleich zu 1,1% der Angloamerikaner".5 Zugleich ermöglicht der Rückblick auf die Einwanderung von Katholiken und von osteuropäischen Juden in die USA die Beurteilung der damaligen Sorgen vor Überfremdung. Heutige Feinde der "Überfremdung" könnten ihre Annahmen überprüfen. Kam es zu der befürchteten "Überfremdung" durch Katholiken und osteuropäische Juden? Haben sie grundlegend den Charakter der USA transformiert? Übernahmen sie die Macht in den USA?

Zu Ängsten vor "Überfremdung" trägt u. a. die Ignoranz gegenüber der früheren geschichtlichen Entwicklung bei. Gewiss gab und gibt es religiöse Parallelgesellschaften (z. B. in Brooklyn), aber bei der übergroßen Mehrheit der Katholiken und der Juden aus Osteuropa, die in die USA einwanderten, veränderte sich in einem langen Prozess über zwei oder drei Generationen auch die Religion. Eine religiöse Praxis entstand, bei der wie im Supermarkt das Individuum sich nach individuellem Geschmack einzelnes herausnimmt und anderes an den Rand schiebt oder ignoriert.

Die Feinde der "Überfremdung" durch den Islam tun so, als komme ihm das Privileg einer Identität von Religionszugehörigkeit und Religionsausübung zu. Dabei ergab eine Untersuchung der französischen Regierung: 9-15% der französischen Muslime nehmen regelmäßig am Gottesdienst teil. 5 % besuchen wöchentlich freitags die Moschee - also weniger als die 9% der französischen Katholiken, die einmal pro Woche zum Gottesdienst gehen.6 In Frankreich ist "innerhalb von weniger als zwei Generationen die Geburtenrate der muslimischen Einwanderer fast bis auf den Wert ihrer in Frankreich geborenen Mitbürger gesunken".7 Die Feinde der "Überfremdung" betrachten irrtümlich die muslimische Religion als unwandelbare Substanz, die sich den gesellschaftlichen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen entziehen kann.

In Bezug auf die These, es gebe "nur eine richtige Auslegung" der jeweiligen Religion, stimmen 37% der Muslime in den USA zu, 28% der US-amerikanischen Christen. Die These, es existiere "kein Konflikt zwischen einem Leben als frommer Gläubiger und dem Leben in einer modernen Gesellschaft", bejahen 63% der US-amerikanischen Muslime, 64% der US-amerikanischen Christen. Der Aussage: "Ich verstehe mich zuerst als Angehöriger meiner Religion und erst danach als US-Amerikaner" stimmen in den USA 49% der Einwanderer muslimischer Herkunft zu, 46% aller US-amerikanischen Christen und 70% der evangelikalen Christen in den USA.8

Feinde der Einwanderung von Muslimen sehen vor lauter Angst vor den Veränderungen, die sie im Einwanderungsland durch die Muslime befürchten, davon ab, wie das Einwanderungsland die Einwanderer verändert oder wie sich die Einwanderer in ihm verändern. Einer Untersuchung von 2009 zufolge tragen in Deutschland 50% der über 66jährigen Musliminnen ein Kopftuch, bei der Gesamtheit der Musliminnen sind es dagegen nur 28%.9 "2,2 Prozent der muslimischen Mädchen nehmen nicht am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht teil, was ein wenig mehr ist als bei anderen Religionen (0,8 Prozent)."10

Die Demografin und Soziologin Nadja Milewski zeigt in ihrer Dissertation "Fertility of Immigrants. A Two-Generational Approach in Germany"11:

Die Geburtenrate von Einwanderinnen der zweiten Generation hat sich in Deutschland der von Einheimischen weitgehend angepasst. … Entkräftet werden damit zwei Thesen, die in der Einwanderungsdebatte immer wieder vorgebracht werden. Zum einen, dass Einwanderer wegen einer höheren Geburtenrate den Bevölkerungsrückgang längerfristig aufhalten könnten. Zum anderen, dass sie die Deutschen auf lange Sicht zur Minderheit machen würden.

Nadja Milewski

Schon die Konstruktion einer Invasionsarmee des Islams unterstellt eine Einigkeit unter den Muslimen, die faktisch nicht existiert. Sunniten und Schiiten sprechen Aleviten häufig ab, überhaupt Muslime zu sein. Beflissen wird das arabische Sprichwort ignoriert, Araber seien sich nur in einem einig: in ihrer Uneinigkeit. Bei der Zahl der Muslime werden alle mitgezählt, die aus Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit eingewandert sind. Die "Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland" der Giordano-Bruno-Stiftung nimmt an, dass ein Fünftel der als Muslime Aufgeführten sich zwar als Muslime bezeichnen, aber "damit nur die Zugehörigkeit zum muslimischen Kulturkreis ausdrücken, nicht jedoch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten muslimischen Konfession. Ähnliches ist von säkularen Juden bekannt, die sich, obwohl sie mit dem religiösen Judentum nichts zu tun haben, weiterhin als 'Juden' verstehen."12 Die Publizisten, die die Angst vor der "Islamisierung des Abendlandes" schüren, operieren mit abenteuerlichen Zuwachsraten. Zur Korrektur vgl. Busse sowie einen Spiegel-Artikel von 2017. Gerne "vergessen" die selbsternannten Freunde des Abendlandes bei ihren Schreckgemälden auch, dass die Mehrheit der Zuwanderer Männer sind, und beziehen die höhere Geburtenrate auf die gesamte Menge der Zugewanderten.

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