Das Spektakel beginnt, außer Kontrolle zu geraten

Würfeln statt Erzählen. Neues aus dem Genre der Rückversicherung

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Mit "Das Paradies der Schwerter" hat Tobias O. Meißner einen Roman, "besser noch als jedes Computerspiel" geschrieben. Das meint jedenfalls der Rezensent der Süddeutschen Zeitung. Und tatsächlich liest sich "Rakuen", wie das Buch in Meißners Roman-Universum auch heißt, streckenweise wie eine Partie TEKKEN, dem Prügelspiel-Klassiker auf der Playstation.

Der nächste Verwandte vom "Paradies der Schwerter" ist aber nicht das Kombat- sondern das Rollenspiel. Nicht nur, weil das Sprachniveau quer durch den Roman fluktuiert wie bei einem ungeübten Game Master. Wie der vorliegende Roman sind Rollenspiele Action-betont und gliedern die Handlung in Aufgaben und Konfliktsituationen auf. Die Handlung entwickelt sich in kurzen Szenen, an deren Ende Entscheidungspunkte stehen: kann die Tür geöffnet, kann der Drachen erschlagen werden. Erfolg oder Misserfolg werden aus den zuvor festgelegten Fähigkeiten der Spielfiguren und den mit vielen bunten Würfeln ermittelten Multiplikatoren errechnet. Wo der Roman vom Geschick des Autors, das Prügelspiel vom Geschick des Spielers bestimmt wird, regiert hier nur noch einer: der Zufall.

Und der hat im Schwerter-Paradies eine Menge zu tun. Meißner baut in der ersten Hälfte seines rund 360 Seiten starken Epos nacheinander 16 Helden und ein paar Nebendarsteller auf, insgesamt fast 20 Figuren. Den schweigsamen Saul, der etwas hinter sich her zieht, das wie ein Pflug aussieht. Die naiven und zu ihrem Unglück völlig mittellosen Helden-Söhne Andreus und Eljatin. Den galanten, aber entstellten Avalon Jaynes. Die beiden geheimnisvollen, waffenlosen Mönche aus dem Osten. Meißner versieht diese scheinbar in keiner Beziehung zueinander stehenden Figuren mit mal mehr, mal weniger liebevoll ausgestalteten Hintergrundgeschichten und Zukunftsträumen, ohne jedoch explizit Protagonisten und Antagonisten aufzubauen. Und alle führt er an denselben Ort, in die "Befestigte Stadt", in die "Hölzerne Arena", wo einer von ihnen im Kampf auf Leben und Tod 1.000 Taler gewinnen wird, die anderen aber - vielleicht - ihr Leben verlieren.

Eher ein Game-Controller als ein Buch ?

Parallel montierte Erzählstränge kennt man, von "Owen Meany" bis "Magnolia", wo Handlung an Handlung, Figur an Figur gereiht wird, um schließlich krisenhaft und doch irgendwie befriedigend aufeinander zu prallen. Befriedigend, weil hier die erzählerische Spannung gelöst wird, die allein schon aus der Frage entsteht, wie wohl die Parallelhandlungen zusammenpassen könnten. Loose ends, die bei einem dezidierten Episoden-Film wie Altmans "Short Cuts" noch erträglich sind, werden beim Roman allgemein als Qualitätsmangel - oder doch zumindest als avantgardistisch und experimentell - empfunden. Der Roman ist schließlich ein Genre der Rückversicherung. Irgendwann, das weiß der Leser, wird da ein Ende sein, die letzte Seite, von der Sartre sagt, dass sie für die Konstruktion von Sinn im Text unverzichtbar sei. Im besten Fall treffen die Parallelhandlungen schon früher zusammen, am Höhepunkt der Handlung, am Ende einer hoffentlich langen Spannungskurve, nach dem dann noch die letzten losen Enden verknüpft und Konflikte beigelegt werden.

Im "Paradies der Schwerter" jedoch mag die Spannung anfangs nicht recht aufkommen. Von der Hölzernen Arena, dem Ziel aller Wege in Rakuen, erfahren wir zum ersten Mal auf Seite 4. Spätestens nach der dritten der durchschnittlich rund zehn Seiten langen Episoden ist klar, dass jeder der Helden dort enden wird. Die Vorbereitungskämpfe, die jeder von ihnen auf dem Weg dorthin bestehen muss, orientieren sich durchaus an der Ästhetik des Computerspiel und kommen so plastisch daher, dass man zuweilen meint, eher einen Game-Controller als ein Buch in der Hand zu halten. Aber sie wiederholen sich. Und man kennt das Genre zu gut, als dass man an ihrem Ausgang zweifeln könnte: Der Bessere siegt, der Klügere gibt nach, der Edle überlebt, die mutigen Rebellen sterben im Schaukampf, der identifikationsstarke Outlaw wird gefasst. Und aus jeder Episode geht ein Held hervor, der sich aufmacht zur Hölzernen Arena, die 1.000 Taler, die Freiheit, die Rache, den Ruhm vor Augen.

Die Geschichte, wusste schon Wolfgang Iser, entsteht im Kopf des Lesers. Der legt beim Lesen verschiedene Register oder "Vermögen" an, wie Schlüssel, die ihm den Sinn des vorliegenden Textes eröffnen sollen. In der ersten Hälfte des Romans gelingt das ganz gut. So gut, dass es schon fast langweilig wird. Zwanzig Fantasy-Namen und zwanzig doch sehr gleichförmige Heldenbiografien wirken auf die Dauer etwas zäh. Doch mit dem großen Wettkampf beginnt das Spektakel, außer Kontrolle zu geraten. Meißner lässt Paarungen auslosen, die im K.O.-Verfahren gegeneinander antreten, bis nur noch zwei und dann nur noch einer übrig ist. Vor dem inzwischen hinlänglich bekannten Kampfgetöse fängt der Leser an zu arbeiten: Welches ist die privilegierte Story? Der Bruder, der die Geschwister ernähren muss, der versklavte Gladiator, der um seine Freiheit kämpft, der Kopfgeldjäger, der hier den Banditen stellen will, der Bandit, der hier sein langjähriges Idol übertreffen will?

Not, Freiheit, Recht, Ehrgeiz - alles billige Gründe. Doch gleichzeitig ist keiner der Helden so ideal und ungebrochen, als dass er nicht auch ein Verlierer sein könnte, ein Bauernopfer auf dem Weg dies strahlenden Siegers. Wie die beiden Wettstrategien im Zuschauerraum setzt der Leser - und sei es unbewusst - auf einen bestimmten Ausgang des Turniers. Aber so sehr man sich auch bemüht, den idealtypischen Kampfverlauf vorauszusehen und zu erahnen, welchen Lebensentwurf, welchen Zukunftstraum der Autor für überlebenswert hält - nach zwei, drei Kämpfen versagt jeder Entwurf. Denn Meißner verzichtet aufs Erzählen und würfelt. Wie bei einem Rollenspiel überlässt er den Ausgang der Kämpfe dem Fall der bunten Vier- und Acht- und Zwölfseiter. Wer die Erzählung im "Paradies der Schwerter" sucht, muss seine Strategie schneller wechseln können als der Zufall zuschlägt.

Die digitalen Literaten und Cyberpoeten nennen solche vom Zufall getriebenen Erzählungen nach dem Würfel aleatorische Literatur. "Papierene Vorläufer" gibt es genug, Experimentalliteratur wie Queneaus "Cent Mille Milliards des Poèmes", Saportas "Composition No. 1" oder gar das altchinesische Stöckchenorakel "I Ging". In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts trat die Hyperfiction an, auf der digitalen Plattform solche interaktive und kombinatorische Literatur konsequenter und vor allem auch massentauglicher zu realisieren. Dass dieser Versuch vorläufig gescheitert ist, liegt wohl - neben einigen technischen Hürden - auch daran, dass Hyperfiction qua Definition meist endlos war und auf Sartres letzte Seite verzichtete.

Das "Paradies der Schwerter" geht einen Schritt weiter und gleichzeitig einen Schritt zurück. Auf dem Weg zum Game Over der letzten Seite stellt Meißner nur eine mögliche Variante seines Spiels dar und führt das Alles Geht des Würfelspiels, die unendliche Kombinatorik der Hyperfiction und das beruhigende Reload des Computerspiels auf die Unausweichlichkeit des Zufalls zurück. Der Roman endet in der Entropie, der größtmöglichen Unordnung (oder Sinnlosigkeit) im Gleichgewicht der Kräfte. Die Helden sind tot. Der Kampf geht in den dunkeln Seitenstraßen weiter. Man ahnt: es wird keine Entwicklung geben, die über den Kampf hinausgeht. Wer kämpft wird sterben. Keiner der vorgestellten Lebensentwürfe wird vom Autor, der Schicksalsmacht des Roman-Universums, privilegiert. Wer bis zum Schluss darauf setzt, dass zumindest ein überraschend aus dem Hut gezaubertes, aussagekräftiges Ende ein Happy End, Katharsis oder den moralischen Zeigefinder - und damit den Aha-Effekt bezüglich der korrekten Lesestrategie - bringen wird, der muss in der letzten Runde ausscheiden. Und weil das ein bisschen ist wie im wirklichen Leben, ist der Roman "Das Paradies der Schwerter" so unerträglich. So unerträglich spannend.

Tobias O. Meißner: Das Paradies der Schwerter. Roman. Eichborn Berlin 362 Seiten Gebunden EUR 24,90