"Das neue Evangelium" - Sauerländer Priester als Hitler-Propagandist

Seite 3: Das "neue Evangelium" und der neue "Heiland"

Die hier zur Sprache kommende Religion – mit einem neuen "Evangelium" (!) nebst Hochfesten – ist nicht die Religion Jesu oder das Christentum der Vorfahren. Sinngebung, Lebensenergie und Freude an einem Weiterleben gibt es für Lorenz Pieper nur noch da, wo die Bewegung des neuen "Heilands" (!) mit Namen Adolf Hitler für sich Erfolge verbuchen kann.

Einen anderen Trost in Krisen und Verzweiflung scheint er nicht mehr zu kennen: "24. Februar 1932. – Wäre sonst das Leben noch lebenswert, wenn man ihm nicht täglich Inhalt gäbe durch Arbeit für unser armes geschundenes Deutschland?"

Vieles von dem, was der Dominikaner Franziskus Stratmann im Buch "Weltkirche und Weltfriede" über seine Beobachtungen zum Kult der Nationalgottheit niedergeschrieben hat, findet im "Brieftagebuch" des geweihten sauerländischen Priesters eine gleichermaßen traurige wie erschreckende Bestätigung. Pater Fr. Stratmann konstatierte 1924:

Dem "vollentwickelten und bewussten Religionsersatz im Namen eines staatlichen oder nationalen Ideals geht eine mehr unbewusste Idolatrie zur Seite. Wer nämlich vor einer prinzipiellen Vaterlandsvergottung zurückschreckt, kann doch praktisch das Vaterland neben oder gar über Gott setzen.

Wie oft kommt es vor, dass der Idealismus eines Menschen fast völlig vom nationalen Ideal beschlagnahmt wird, sodass sein Denken, Fühlen, Wollen und Handeln dem Vaterlande alles opfert, auch Gott und Christus. Köpfe, die für religiöse Gedanken keinerlei Interesse haben, sind erfüllt von Ideen über die Größe des Staates, der Nation und die Bedeutung der Politik; Herzen, die bei keiner religiösen Feier höher schlagen, glühen bis zur Leidenschaft bei patriotischen Kundgebungen.

Kein religiös-sittliches Unglück, keine noch so große Beleidigung Gottes oder Beschimpfung der Kirche kann sie in Trauer versetzen, ein nationaler Mißerfolg aber sie völlig niederschlagen."

Franziskus Stratmann OP (1924)

Wo emotionale Unreife und seelische Leere walten, kann das Nationale – im Zuge einer geistig-seelischen Immunschwäche – als Fetisch zum Lebenssinn werden. Wenn speziell Geistliche der Ersatzreligion des Nationalen anheimfallen, stoßen wir zudem im Hintergrund stets auf eine religiöse (bzw. theologische) Substanzlosigkeit oder Irrfahrt.

Hier kann die Kritik freilich nicht moralisierend auf eine bloße "Selbstverschuldung" des Individuums abzielen. Denn "theologische Substanzlosigkeit" hat immer auch mit dem kirchlichen Kontext zu tun, in dem ein Christenmensch religiös sozialisiert worden ist! Man kann ja auch in einem Gefüge von Kirche oder Theologiebetrieb viel von "Gott" und "sowas daher" reden, ohne dass es irgend etwas zu bedeuten hätte.

Literaturhinweis:

Peter Bürger, Werner Neuhaus (Hg.): Am Anfang war der Hass. Der Weg des katholischen Priesters und Nationalsozialisten Lorenz Pieper (1875-1951) – Erster Teil. Schmallenberg: WOLL-Verlag 2022. (ISBN: 978-3-948496-49-4; 652 Seiten; Fester Einband; 29,90 Euro; www.woll-verlag.de). Inhaltsverzeichnis.

Ein zweiter Teil dieses Forschungs- und Quellenprojektes mit den Schwerpunkten "Euthanasie-Morde" und "Entnazifizierung" soll 2023 erscheinen.