Das psycho-sexuelle Labor des Dr. Cammell

Performance

Performance, einer der aufregendsten Filme der Sixties, wird 40. Donald Cammell, ohne den er nicht entstanden wäre, hat er wenig Glück gebracht.

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Apotheose

Es gibt Geschichten, die fängt man am besten mit dem Ende an. Der Anfang vom Ende war der 29. Mai 1987. An diesem Tag erwarb Donald Cammell in Los Angeles einen fünfschüssigen Revolver der Marke Smith & Wesson, Kaliber 38. Von der Waffe (nebst Munition) trennte er sich danach nur ungern. Wahrscheinlich kaufte er sie in der Absicht, sich damit umzubringen. Von der Selbsttötung sprach er schon seit vielen Jahren. In solchen Fällen ist es oft so, dass die Umwelt irgendwann aufhört, das wirklich ernst zu nehmen. Aus der Forschung weiß man aber inzwischen, dass die Wahrscheinlichkeit einer solchen Tat nicht dadurch geringer wird, dass jemand darüber redet. Am 24. April 1996 ging Donald Cammell ins Schlafzimmer in seinem Haus in den Hollywood Hills (9032 Crescent Drive), setzte sich den Lauf des Revolvers an die Stirn und drückte ab.

Bald waren die ersten, auf Erzählungen der Witwe beruhenden und mehr oder weniger phantasievoll ausgeschmückten Gerüchte im Umlauf. Halbwegs verbürgt ist, dass China Cammell in Panik zu den Nachbarn rannte und dort die Notrufnummer wählte. Der Rettungsdienst brauchte zehn Minuten. In einigen Presseberichten heißt es, er sei 45 Minuten lang unterwegs gewesen, weil der Fahrer das Haus nicht finden konnte. Vielleicht war das der Ausgangspunkt der Legende, der zufolge Cammell noch 45 Minuten lebte, in denen er sich mit Hilfe eines Spiegels selbst beim Sterben zusah. Der von der Witwe favorisierten Version nach war das so geplant. Cammell, der sich zeitlebens für das Gehirn und seine Funktionen interessierte, hatte sich vorab informiert, wie er sich in den Kopf schießen musste, um langsam und schmerzlos zu verbluten. Wer den Teil mit dem schmerzlosen Sterben nicht recht glauben konnte, fügte noch die eine oder andere, den Schmerz betäubende Droge hinzu. So berichtet etwa Stephen Davis in Old Gods Almost Dead: The 40-Year-Odyssey of The Rolling Stones von einer dreiviertelstündigen „nekro-narkotischen Benommenheit”. Er kennt auch den letzten Satz, den Cammell zu seiner Frau sagte, bevor er starb: „Siehst du Borges?“

China dagegen berichtet von einem 45-minütigen „Zustand der Klarheit und der Ekstase“, in dem sich Donald nach dem Schuss befunden habe. Er habe fast ohne Pause über Menschen, Orte und Pläne gesprochen. Am Ende habe ein Licht den Raum erfüllt, dann sei er genau so gestorben, wie er es sich gewünscht habe: „mit einem Feuerwerk“. Journalisten und Buchautoren nahmen das dankbar auf. Und einige von ihnen sahen neben dem vielen Licht auch Schatten. Kein Wunder also, dass in der Gerüchteküche bald ein Topf mit der Aufschrift „Aleister Crowley“ stand. In ihn wurde alles hineingerührt, was mit Drogen, Orgien und schwarzer Magie zu tun hatte und dann mit dem Hinweis gewürzt, dass Donald Cammell das Patenkind oder – alternativ – das „magische Kind“ des berüchtigten Hexenmeisters gewesen sei. Gewährsmann für letztere Variante war Kenneth Anger.

Die Gerüchte um Cammells Tod lassen immerhin den Schluss zu, dass die Urheber seine Filme kannten. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges, ein Vorläufer des magischen Realismus, war überzeugt von der Dualität des Menschen. Seine Texte, in denen Realität, Phantasie und Traum nahtlos ineinander übergehen, waren eine wichtige Inspirationsquelle für Cammell, vor allem bei Performance. Da gibt es eine Bilderfolge, die man so leicht nicht mehr vergisst. In einem Haus am Londoner Powis Square schießt Chas, ein von James Fox gespielter Gangster, dem Rockstar Turner (Mick Jagger) in den Kopf. Wir folgen der Kugel auf ihrem Weg durch Turners Hirn, in dem sie ein Bild von Borges zerschmettert. Als die Kugel am anderen Ende des Kopfes wieder austritt, befindet sie sich auf dem Dach des Hauses. Die Kamera schwenkt nach unten, begleitet Chas/Fox zum weißen Rolls-Royce des Gangsterbosses (im echten Leben gehörte der Rolls John Lennon). Der Gangsterboss begrüßt Chas, den er nun töten wird. Chas steigt ein. Aus dem Autofenster blickt das Gesicht von Turner/Jagger. Diese Bildmontage ist einer der großen Grenzüberschreitungs- und Verschmelzungsmomente der Filmgeschichte. Wer das Kino mag und wissen will, wozu es fähig ist, wenn etwas gewagt wird, sollte Performance gesehen haben.

Performance

Der Spiegel, in dem sich Cammell beim Sterben beobachtet, dürfte aus White of the Eye stammen; da hält der Serienmörder einem seiner Opfer einen Spiegel vors Gesicht, während er es tötet (seinerseits eine Hommage an Michael Powells Peeping Tom). Oder es ist doch wieder Performance, wo sich Chas beim Blowjob im Spiegel betrachtet (der Leser ahnt jetzt schon, dass dieser Film erst einige Hürden überwinden musste, bevor er ins Kino kam). Und die Geschichte von dem zu einem langsamen Verbluten führenden Kunstschuss erinnert an die Recherchen, die Cammell für The Cull anstellte, eines seiner vielen nie realisierten Drehbücher. Dem Helden wird durch die Wange geschossen. Man erfährt, dass er noch Glück hatte, weil er von einem Vollmantelgeschoss getroffen wurde, das einen geraden Schusskanal und eine saubere Austrittswunde verursacht. Cammell allerdings hatte seinen Revolver mit zwei jener nur halb ummantelten, sich beim Aufprall pilzartig ausbreitenden Patronen geladen, von denen einer der Charaktere in The Cull sagt, dass sie viel mehr Schaden anrichten. Also war es offenbar doch nicht so wie in der Legende.

White of the Eye, Performance

Rebecca und Sam Umland, Cammells Biographen (Donald Cammell: A Life on the Wild Side), hatten Gelegenheit, die Polizeiakten und den Bericht des Gerichtsmediziners zu studieren. Im Blut des Toten fand man weder Spuren von Alkohol noch von Kokain, Metamphetaminen, Kodein und diversen anderen Narkotika, auf die in solchen Fällen routinemäßig untersucht wurde. Aus den Akten ergibt sich ziemlich eindeutig, dass Cammell nach dem Schuss gleich tot war und vorher keine Betäubungsmittel genommen hatte. Sollte China die Geschichte von den 45 Minuten, in denen sie Donald beim Sterben begleitete, also erfunden haben, darf man ihr das nicht übel nehmen. Vielleicht half es ihr, mit ihren Schuldgefühlen umzugehen. Kürzlich hatte sie Donald nach einer 20-jährigen, bestimmt nicht immer leichten Beziehung verlassen. In das Haus am Crescent Drive war sie nur zurückgekommen, um die endgültige Trennung in die Wege zu leiten. Manche Freunde sahen darin den Grund für die Selbsttötung, was vermutlich auch zu einfach ist.

Magische Kindheit

Donald Cammell kam am 17. Januar 1934 in der Wohnung seiner Eltern zur Welt, im Outlook Tower in Edinburgh, gleich neben der Burg. Einen symbolträchtigeren Geburtsort konnte es für einen angehenden Filmregisseur kaum geben. Der Outlook Tower heißt so, weil man von dort einen herrlichen Blick über Edinburgh hat, nicht zuletzt mittels einer berühmten Camera obscura. Donalds Vater David Richard Cammell, ein Erbe des Schiffsbauimperiums Laird Cammell, hatte einen Teil seines enormen Vermögens durch den ruinösen Kauf eines Schlosses in Burgund verloren und das meiste von dem, was noch übrig war, durch den Börsencrash von 1929. Cammell sen. war ein Bohemien, Kunstliebhaber und Unterstützer der schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen; für den Scotsman schrieb er Oden über historische Ereignisse. Donalds Mutter, Iona Macdonald, war eine Expertin für schottisches Brauchtum und betrieb, als sie seinen Vater kennenlernte, in der Londoner Bond Street einen Laden, in dem sie handgewebte, auf den schottischen Inseln hergestellte Tweedstoffe verkaufte. Der Taufpate von Donald Seton Cammell – so sein voller Name – war nicht Aleister Crowley, sondern der berühmte schottische Naturkundler Seton Gordon (Autor von Highways and Byways in the Central Highlands).

1935 wurde D.R. Cammell stellvertretender Redaktionsleiter der in London erscheinenden Zeitschrift The Connoisseur. Die Familie wohnte nun im Londoner Vorort Richmond, wo viele Schriftsteller lebten, wenn es nach Cammell sen. ging aber nur drei, die wirklich wichtig waren: Ralph Shirley, Verleger und Verfasser okkulter Schriften und Gründer der Occult Review; Montague Summers, Autor von Witchcraft Through the Ages und The Vampire, His Kith and Kin; und Aleister Crowley. Wie bedeutend Crowley für Donald Cammell war, und ob überhaupt, ist umstritten. Rein biographisch ist es so, dass The Great Beast von 1936 bis 1940 Kontakt zu den Cammells hatte. Im Januar 1940 bezog er eine Wohnung in ihrer Nachbarschaft. Von da an kam er oft zum Essen. Im Herbst 1940 überwarf er sich mit David und Iona, was damit zu tun hatte, dass er edle Tweedstoffe in Kommission verkaufen sollte und den Verkaufserlös für sich behielt.

Wer nicht an Zauberei glaubt, wird es eher unwahrscheinlich finden, dass Donald von einem Mann nachhaltig beeinflusst wurde, den er im Alter zwischen zwei und sechs Jahren hin und wieder sah, wenn er zu seinen Eltern zum Essen kam. Später erzählte er gern Geschichten von dem berüchtigten – und sehr kinderlieben – Magier, der ihn auf seinen Knien geschaukelt hatte, als er ein kleiner Junge war. Skeptiker wie die Umlands sehen darin nichts weiter als Donalds Versuch, von Crowleys Aura zu profitieren und Leute so in seinen Bann zu ziehen. Andererseits merkt man allen Cammell-Filmen an, wie wichtig die Werke seines Vaters für ihn waren. Der Senior war ein intimer Kenner der okkulten Literatur, hatte aus seinem Schloss in Frankreich wenigstens die vielen seltenen Schriften gerettet und war Miteigentümer des Atlantis Quarterly: A Journal Devoted to Atlantean and Occult Studies.

1951 veröffentlichte David Richard Cammell ein schönes Buch über Crowley, den er nach dem Zerwürfnis weiter als Dichter und Intellektuellen schätzte (Aleister Crowley. The Man: The Mage: The Poet – als Aleister Crowley: The Black Magician auch als mehrfach neu aufgelegter Raubdruck erschienen). Außerdem sollte man nicht vergessen, dass Crowleys Form von Magie wenig mit Teufelspakten zu tun hatte, dagegen sehr viel mit dem Ausloten von Grenzbereichen des Bewusstseins und der Identität, gepaart mit sexuellen Experimenten. Das von Crowley gepflegte Image hatte auch eine Schutzfunktion. Die Hexerei, in Großbritannien theoretisch noch unter Strafe stehend, wurde in der Praxis kaum mehr verfolgt. Ganz anders verhielt es sich mit dem Tatbestand der „Sodomie“. Damit war meistens die Homosexualität gemeint, doch der Begriff ließ sich bei Bedarf auf andere missliebige Spielarten der Sexualität ausdehnen.

Die Faszination, die Crowleys Sexualmagie auf viele 68er ausübte, lässt sich nicht allein dadurch erklären, dass wildgewordene Hedonisten Gruppensex haben und bei schwarzen Messen dem Polymorph-Perversen begegnen wollten. Das große Thema von Cammells Filmen ist die Auflösung durch rigorose Grenzziehungen definierter Identitäten, die Verbindung scheinbar klar getrennter Bereiche. „Merger“ (Verschmelzung) ist nicht umsonst das Schlüsselwort in Performance. Für ein auf die einzementierte Ich-Identität geeichtes Bürgertum war das schockierend. Cammells Biographie enthält jedoch Hinweise darauf, dass das wirklich Böse womöglich ganz woanders lauert.