Das weiße Gift

Wohnsilo in Miramar, gar nicht nett. Foto: Tom Appleton

Eine kurze Geschichte der Milch

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Eigentlich suchte ich für den Titel nach einem Klassiker-Zitat wie "die Milch der frommen Denkungsart" (Schiller) oder "the milk of human kindness" (Shakespeare) — aber darum geht es mir heute einmal nicht. Es geht um das weisse Gift, das wir heute als "Milch" verkonsumieren.

Ich darf vielleicht einmal mit meiner häuslichen Situation beginnen, denn hier in Neuseeland, wo ich wohne, gilt die Milch als "gesund" und als "Grundnahrungsmittel. In jedem Supermarkt ist die Abteilung für Milch und Milchprodukte, wie Käse, Joghurt, und so weiter, eine der größten. Ich wohne in der Hauptstadt, Wellington, und dort dann spezifisch im Stadtteil Miramar. "Miramar" bedeutet auf Italienisch oder Spanisch so viel wie "Schau mal, das Meer." Von da, wo ich wohne, kann man das Meer eigentlich nicht sehen. Aber Sie können sehen, wo ich daheim bin, wenn sie diese Google-Daten eingeben.

Diese Szenerie ist schon etwas älter, hier ist noch ein neueres Foto aus meiner Kamera, aufgenommen an Ort und Stelle. Eine Freundin in Deutschland, der ich das Foto schickte, befand, die Gegend sei aber "gar nicht nett". Was kann man wollen. Jedenfalls ist sie authentisch.

Links von meinem Wohnsilo in Grau und Gelb steht das Roxy, ein Kino das, ohne jetzt alle juristischen Feinheiten mitzuerwähnen, von Peter Jackson betrieben wird, dem zur Zeit immer noch bekanntesten neuseeländischen Filmemacher; also dem Mann, der den "Herrn der Ringe" verfilmt hat. Wenn Sie dann die Park Road weiter entlang "fahren", kommen Sie auch noch an weiteren Peter Jackson Stationen vorbei. Was Sie hier nicht sehen, ist der "New World" Supermarkt — um die Ecke vom Roxy, auf den ich für viele meiner Einkäufe angewiesen bin.

Einkauf im Supermarkt

Letzthin war ich wieder mal da und kaufte, so auf gut Glück, dies und jenes. Die meisten Menschen laufen ja im Supermarkt mit einer Einkaufsliste herum; dann kaufen sie aber doch etwas anderes, oder das, was sie kaufen wollten, gibt es gerade nicht, und so weiter. Die stets unsägliche Musik zerstreut auch noch zusätzlich ihre Gedanken.

Meine Tochter kennt ihren Einkaufsplan auswendig, sie hat einen Mann, vier Söhne und einen riesigen Kater. Sie weiß, wie schwer der Einkaufswagen ist, wenn sie für 350 Dollar Zeug eingekauft hat - und obwohl sie "bewusst" und "kritisch" kauft, sind ihre Optionen oft eingeschränkt. Sie kann neben dem stets quengeligen Dreijährigen einfach nur soviel kaufen, nur soviel ins Auto packen, und nur solange unterwegs sein, bis sie schon den Sechsjährigen aus der Schule abholen muss.

Ich bin auf den Supermarkt in meiner Nähe angewiesen, seit ich mein 24 Jahre altes Auto — auf Deutsch: meine Rostlaube — nicht mehr durch den TÜV kriegte.

Das Produkt einer indischen Firma aus Fidschi

Ich kaufe jetzt zum Beispiel den Joghurt der Marke Gopala — wie der Name schon sagt, das Produkt einer indischen Firma, bzw. einer indischen Firma aus Fidschi, die hier in Neuseeland eine Dependance hat. Das ist ein NaturJoghurt, aus Milch gemacht, steht sogar extra drauf: "aus Milch gemacht" — und ohne Gelatine. Die Inder mögen unter Umständen keine Rinderknochen in ihrem Joghurt, und Schweineknochen möchten sie sicher erst recht nicht, und viele Inder sind ja auch Moslems. Also keine Gelatine. Und weil ich mir selber Jahre lang den Joghurt zuhause gemacht habe, finde ich Gelatine zusätzlich unnötig.

Dieser Gopala kostet 4 Dollar pro Behälter und ist damit nur etwa halb so teuer wie die Produkte anderer Firmen. Meine Tochter kauft zum Beispiel einen "organischen" (d.h. "Bio"-) Joghurt in einer Plastikflasche. Diese Flasche hat einen integrierten Griff, durch den der Joghurt auch hindurchfließt - in Richtung Ausgang. Man schüttelt die Flasche, setzt sie an den Mund, und trinkt daraus.

Wie man verhindert, dass sich der Preis um bis zu 25 Prozent erhöht

Von dem halben Liter bleibt dann noch immer knapp ein Viertel an den Innenteilen der Flasche hängen. Da kann man versuchen, mit einem langstieligen Löffel den Rest herauszukratzen, oder man kann die Flasche aufschneiden, um an den verbliebenen Inhalt heran zu kommen, oder man verzichtet darauf, dann erhöht sich der Preis um bis zu 25 Prozent.

Meine Tochter mischt an diesem Punkt Früchte mit dem Pürier-Stab und schüttet diesen Mix hinein in die Joghurtflasche. Kräftig geschüttelt, und dann kommt der "Smoothie" — der Joghurt-Früchte-Drink — ziemlich komplett aus der Flasche heraus. Man muss eben nicht immer alles gleich in den Müll werfen.

Ich kaufe den Gopala, und dann kommt da so-und-so-viel davon in die Suppe oder mit Obst in ein Schüsselchen, mehr als eine Packung pro Woche brauche ich selten. Wenn meine Tochter mit dem Kleinen zu Besuch kommt, frage ich ihn, ob er ein bisschen Joghurt möchte?

"Ja…!" ruft er freudig aus, und ist dann natürlich entsetzt, dass dieser Joghurt so sauer schmeckt. Immerhin, ich mische manchmal ein bisschen "Grape Jelly" mit hinein, das ist "Weintrauben-Marmelade", und dann findet er es schon ganz okay. Diese Marmelade kommt aus Ägypten, enthält aber (auch) keine Gelatine.

"Glückwunsch an alle Deckel-Ablecker, wo immer ihr sein mögt"

Im Supermarkt fand ich im Sonderangebot eine Ein-Kilo-Packung eines Qualitäts-Joghurts, den ich mir sonst nicht kaufe. Es ist eine "französische" Marke, die in Neuseeland, in Palmerston North, hergestellt wird, und der Name bedeutet, so will man es uns verklickern,"Joghurt auf Französisch."

Im Sonderangebot kostet der Französische nun so viel wie der Indische ganz regulär. Normalerweise ist der Franzose fast doppelt so teuer. Warum ist er heute so billig? Oben am Deckel erfährt man es. Er sollte bis zum 3. des Monats gegessen sein, da muss man sich also ran halten. Heute ist schon der zweite.

Zuhause öffne ich den Deckel. Auf dem Deckel lese ich: "Glückwunsch an alle Deckel-Ablecker, wo immer ihr sein mögt." Und weiter: "Ihr versteht ja, worum es im Leben geht, dass ihr gesund und glücklich seid. Das ist der Grund, warum jeder Behälter unseres köstlichen Joghurts so gut hergestellt wird, dass man unbedingt das Innere des Deckels ablecken muss."

Von Natur aus mit einer recht empfindlichen Nase ausgestattet, schnuppere ich jetzt erst einmal am Innern dieser Packung, und der erste Eindruck, den ich gewinne, ist: Apotheke. Ich rieche irgendwas Pharmazeutisches. Ist das nun bei dieser Marke immer so, oder nur deswegen, weil das Ablaufdatum schon so nahe heran gerückt ist? (Frage ich mich an dieser Stelle.)

Ich nehme den Löffel, und fahre in den Joghurt hinein. Die Konsistenz ist anders als bei vielen anderen Joghurts. Es ist eine feine, cremige, aber sämige Festigkeit, ein Mittelding zwischen geschäumter Sahne aus der CO2-Dose und einer feinen kosmetischen Handcreme. Der Geschmack ist irgendwie nach "gesüsstem Pharma", wobei das Pharma so einen leichten Nachgeschmack nach Schimmelpilz hat, wie man ihn auch bei nicht mehr ganz frischen Äpfeln erlebt.

Ich vertrage eigentlich kein Penicillin, meine Reaktion auf diese Geschmacknote ist immer ein leichtes Anstoßen am Gaumensegel. Bevor ich es schlucke und mich vielleicht doch zu übergeben beginne, spucke ich es vorsichtshalber schon vorher aus.

Mein Bruder hat dafür eine handliche Formel. Warum erst den Magen beschweren? Ich kippe es lieber gleich ins Klo.

Ich habe von dem Kilo Joghurt ein halbes Kilo in den Mund genommen, löffelweise, so nach und nach, geschmeckt, und ausgespuckt — in die Küchenspüle. (Ich möchte nicht die ganze Zeit im Badezimmer über die Kloschüssel gebeugt stehen, während ich diesen Joghurt verköstige.) Fazit: Das Produkt der Firma hat mir nicht gefallen, ich will sie hier auch gar nicht namentlich erwähnen. Meine Tochter winkt bei dem Namen schon gleich ab, als ich ihr davon berichte. "Ganz üble Marke," meint sie. Trotzdem kauft sie für ihre Kleinen die Winz-Packungen des FruchtJoghurts, weil die Kids das eben "lieben".

"Natural" steht da, und darunter: "sweetened"

Ich lese den Text, den die Werbeleute der Firma auf diesen Kilo-Becher geschrieben haben.

"Natural" steht da, und darunter: "sweetened." Das ist eine doppelte Aussage, einmal "natürlich" und aber auch "gesüsst", oder eben doch auch zusammengeschweißt, im Sinne von "natürlich gesüsst." Welche "Natur" wurde hier zum Süßen verwendet? Na, Zucker — natürlich.

Eine alte Formel der amerikanischen Lebensmittel- und Arzneibehörde kommt mir in den Sinn: "Wenn nur halb so viele Dinge über eine Giftsorte bekannt wären, wie alles das, was wir schon über den Zucker wissen, wäre sie längst verboten worden." Die Kurzformel lautet also, "Zucker ist Gift" oder "Zucker vermeiden."

Kann man das denn überhaupt? Kann man ohne Zucker leben?

Natürlich. Die Indianer Nordamerikas sahen Zeit Lebens so gut wie nichts Süßes. Keinen Zucker, selten einmal Honig, wenig süße Früchte. Die größte Verführung für sie waren die getrockneten Apfel-Ringe, die ihnen die weißen Pelzhändler anboten. Das waren getrocknete Apfelringe, an einer Schnur aufgereiht, ungefähr ein Kilo, und die Pelzhändler bekamen einen guten Pelz für zwei solche Halsbänder aus Apfelringen. Die Indianer konnten dem Geschmack nicht widerstehen. Sie aßen ein oder zwei Kilo auf einen Satz. Dann quollen die Apfelringe in ihrem Magen auf. Trotzdem konnten sie der Versuchung nicht widerstehen.

"Halal Gelatine"

Bei dem französischen Joghurt kommt mir die Beschriftung so vor, als wäre sie von Trappern angefertigt, von Fallenstellern, die es auf die arglose neuseeländische Hausfrau abgesehen haben. "Nur 7g Zucker per 100g" steht da, beispielsweise, und ein bisschen weiter unten "8,8 g oder 10%". Jetzt ist Kopfrechnen gefordert. Sind 7 Gramm Zucker auf 100 Gramm Joghurt das Gleiche (oder das Selbe?) wie 8,8 Gramm Zucker auf 125 Gramm Joghurt? Lauter verwirrende Nachrichten. Wenn der Franzose zu "98% fettfrei" ist, woraus besteht er dann eigentlich?

Aha, er "enthält Milch", das ist gut, aber auch "Halal Gelatine". Das muss so sein, denn es gibt genug moslemische Kunden, für die eine solche Nachricht wichtig ist. Ich mag natürlich, wie ich schon sagte, gar keine Gelatine im Joghurt, da ist mir die Tötungsart der Tiere, deren Knochen hier hinein verrührt wurden, quasi "egal".

Was mich stört, ist etwas anderes. Früher, vor 30 Jahren oder so, machte ich mir zuhause den Joghurt selber. Man bat Freunde oder Bekannte um eine Handvoll ihres Joghurt-Starters, und dann schüttete man drei Flaschen Milch— nach damaligem Maßstab knapp 2 Liter Milch— dazu und stellte die Schüssel in den Schrank mit dem Heißwassertank, wo auch die Wäsche trocknete und der Brotteig seine Aktivität entwickelte. Dieser zuhause gemachte Joghurt schmeckte okay, manchmal wurde er ein bisschen bitter, aber das war nie ein Problem. Und er kostete auch nicht viel, vielleicht 25 Cent.

Heute zahlt man für eine 2-Liter Flasche Milch rund 20 mal so viel, es lohnt also weder die Mühe noch den Preis, sich den Joghurt selbst zu basteln.

Fortsetzung folgt

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