Datenschutz = Täterschutz?
Seite 3: Diskreditierung des Datenschutzes als unvernünftig
- Datenschutz = Täterschutz?
- Verankerung der Aussage in Emotionen
- Diskreditierung des Datenschutzes als unvernünftig
- Unterschlagene Rechtfertigungspflichten
- Ausblendung des Themas Grundrechte
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Die Datenschutz-Täterschutz-Phrase kehrt die Beweislast um. Eigentlich müssen sich die Verfechter weiterer Überwachung rechtfertigen, weil sie in die Grundrechte der Bürger eingreifen wollen. Die Phrase bewirkt jedoch, dass jetzt der Datenschutz als Problem wahrgenommen wird, weil er angeblich ermöglicht, dass sich Täter der Strafverfolgung entziehen können. Der Datenschützer gerät in die Kritik. Sein Beharren auf den Datenschutz wirkt falsch und unvernünftig.
In besonders pointierter Weise hat das die "Welt am Sonntag kompakt" vom 27. August 2017 zum Ausdruck gebracht. Das Blatt inszenierte eine polemische Variante der Datenschutz-Täterschutz-Verknüpfung und reagierte so auf die Kritik an dem Berliner Gesichtserkennungs-Versuch. Auf dem Titelblatt sieht man ein Foto von Orwells Roman "1984". Darüber stehen folgende Zeilen:
Das Lieblingsbuch aller U-Bahn-Schubser, Vergewaltiger, Heroindealer, Terrorplaner, Grapscher, Taschendiebe, Goldmünzenräuber, Schläger und Hooligans. Über den Ursprung der absurden deutschen Angst vor der Kameraüberwachung.
Welt am Sonntag
Behauptet wird, dass die Kritik an der Videoüberwachung vor allem einer "absurden deutschen Angst" entspringe. Das Etikett "Angst" unterstellt, Datenschützer seien vorrangig gefühlsgetrieben. Sie reagieren nicht aus sachlichen Erwägungen heraus, sondern weil sie von Angst beherrscht sind. Diese Angst wiederum sei "absurd". "Absurd" steht laut Duden für "sinnwidrig, sinnlos". Das Absurde ist also irrational, unwahr und unlogisch. Eine absurde Behauptung ist kein "Irrtum". Irrtümer können plausibel sein. Sie können durch gute Argumente gestützt werden. Auch herausragende Wissenschaftler können sich irren, weil das, was sie als richtig annehmen, zunächst auch theoretisch schlüssig wirkt. Es kostet Denkarbeit, solche Irrtümer zu widerlegen.
Absurde Behauptungen sind dagegen offenkundig falsch, weil sie "sinnlos" sind. Ihr fehlen gute Gründe und eine schlüssige Theorie. Der gesunde Menschenverstand kann die "Sinnwidrigkeit" und Unlogik der absurden Behauptung intuitiv und schnell erkennen. Die absurde Behauptung ist, anders als der wissenschaftliche Irrtum, niemals brillant.
Der Welt-Titel behauptet demnach, dass Kritik an der Videoüberwachung offenkundig unsinnig sei. Das Beharren auf dieser unsinnigen Kritik lasse sich allein durch die starke Emotion "Angst" erklären. Einen sachlichen Grund gebe es dafür aber nicht. Aufgrund ihrer Angst seien die Kritiker Argumenten nicht zugänglich. Schließlich würden auch sie die Unsinnigkeit ihrer Kritik schnell begreifen, wären sie endlich einmal angstfrei. Also könne man den Datenschützer nicht ernst nehmen. Wegen seiner Ängste kann man ihn allenfalls bemitleiden.
Freilich ist sei der angstgetriebene Datenschützer aber ein gesellschaftliches Problem. Denn dieser verschaffe den Tätern mit seiner Kritik an der Videoüberwachung die Möglichkeit, sich dem polizeilichen Zugriff zu entziehen. Die "absurde Angst" des Datenschützers sei laut Welt keine harmlose Marotte, sondern die Ursache für die fortbestehende Gefahr, Opfer einer Straftat zu werden. Gefahren drohen durch "U-Bahn-Schubser, Vergewaltiger, Heroindealer, Terrorplaner, Grapscher, Taschendiebe, Goldmünzenräuber, Schläger und Hooligans".
Wie schon die Worte "Täter" und "Opfer" lösen auch diese Etiketten Vorstellungen und Gefühle aus, die an jeweils eigene Erlebnisse oder Bilder aus den Medien andocken können. Diese Aufzählung weckt deutlich mehr Gefühle als das schlichte Wort "Täter". Wo dort noch das Tun abstrakt bleibt, benennen diese Etiketten die Verbrechen der "Täter" recht griffig. Das regt die Vorstellungskraft an und stimuliert sowohl Empörung als auch Angst. Der Welt-Titel ist deshalb ein Muster an Doppelmoral: er wirft der Gegenseite Angstgetriebenheit vor, funktioniert aber selbst nur mit Hilfe der Ängste der Leserschaft. Der Effekt: Angst und Empörung verwandeln die Kritik an Datenschützern in ein Gefühl starker Abneigung, die immer weniger hinterfragt wird.
Der Welt gelingt es so, den Datenschutz zu diskreditieren als irrational und als Sicherheitsproblem. Datenschützer müssen ihre Kritik jetzt als sachlich angemessen verteidigen. Verfängt die Diskreditierungsstrategie, gerät die Debatte um die Videoüberwachung auf ein Nebengleis. Die eigentlich wichtige Frage, ob Videoüberwachung überhaupt sinnvoll und notwendig ist, wird dann schnell vergessen. Dann wird aber auch schnell übersehen, dass die Datenschutz-Täterschutz-Phrase auf diese Fragen keine Antwort geben kann. Schließlich besteht der Zweck der Phrase darin, schon die Fragen selbst zu vermeiden.