Datenschutz = Täterschutz?

Seite 4: Unterschlagene Rechtfertigungspflichten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mit der Umkehr der Beweislast entziehen sich die Überwachungsbefürworter ihrerseits der Pflicht der Rechtfertigung. Die Datenschutz-Täterschutz-Phrase verschleiert diese Rechtfertigungsnotwendigkeit: Dem Publikum fällt nicht auf, dass die Überwachungsbefürworter nur wenig dazu aussagen, ob überhaupt und in welchem Maße Datenschutz ein Problem für die Strafverfolgung ist. Der zentrale rhetorische Trick besteht darin, dass die Phrase als allgemeine Norm formuliert wird.

Wie bereits beschrieben wirkt die Norm plausibel. Die meisten Menschen befürworten die Strafverfolgung von Tätern. Sie zu behindern, dürfte daher als widersinnig empfunden werden. Folglich dürfte die Mehrheit der Menschen auch der Aussage zustimmen, dass der Datenschutz den polizeilichen Zugriff auf Täter nicht verhindern dürfe. Weil die Datenschutz-Täterschutz-Phrase schnell und einfach erfassbar ist, nickt man spontan mit dem Kopf. Das Kopfnicken gilt aber nicht nur der Norm, sondern auch der Diagnose. Denn die Phrase, als Legitimierung neuer Überwachungsvorhaben, scheint auch anzuzeigen, dass es tatsächlich ein Datenschutzproblem gebe. Also stimmt man auch der Behauptung eines dringenden Handlungsbedarfes zu.

Dabei wird schnell übersehen, dass die Phrase eigentlich gar nichts über die Wirklichkeit aussagt. Die Phrase ist hochabstrakt. Sie enthält keinerlei Information, wie sich der reale Datenschutz auf die Strafverfolgung auswirkt. Sie spricht nur von einer theoretischen Möglichkeit, dass Datenschutz der Strafverfolgung im Wege stehen könnte. Ob es das Problem in der Wirklichkeit gibt, kann man nur mutmaßen. Dank der Eingängigkeit der Phrase sind diese Mutmaßungen spontan und mehr gefühlte Wahrheiten als Herleitungen aus Fakten und Argumenten. In ihrer Knappheit ist die Phrase mehrdeutig. Es lassen sich unterschiedliche Problembeschreibungen mit ihr verbinden:

  1. Datenschutz ist immer Täterschutz. Datenschutz erschiene darum ganz grundsätzlich als Problem.
  2. Datenschutz ist nur in bestimmten Fällen "Täterschutz". Die Schlussfolgerung wäre, Datenschutz weiterhin zu betreiben, ihn aber in den problematischen Fällen zu korrigieren.

Die Phrase selbst lässt nicht erkennen, welcher Problembeschreibung die Überwachungsbefürworter folgen. Sie ist daher für viele Menschen mit unterschiedlichen Deutungen kompatibel und stiftet einen breiten Konsens.

Erst wenn man sich diese Mutmaßungen zum Datenschutzproblem bewusst macht, kann man erkennen, welche Problembeschreibung die Überwachungsbefürworter eigentlich kommunizieren. Und erst dann wird auch erkennbar, dass die Phrase nicht überzeugt, weil sie viele Fragen offen lässt.

Die Radikalposition, Datenschutz sei immer ein Hindernis für die Strafverfolgung erweist, sich schnell als unrealistisch. Datenschutz ist nicht prinzipiell "Täterschutz", denn nach gegenwärtiger Gesetzeslage ist Strafverfolgung immer möglich. Die Polizei hat immer eine Reihe von Befugnissen zur Ermittlung von Informationen und zum Zugriff auf Verdächtige. Ein Großteil der Polizeibefugnisse wird durch Datenschutzvorschriften kaum oder gar nicht berührt. Das dürfte kaum ein Innenpolitiker ernsthaft bestreiten. Ferner werden die meisten Innenpolitiker den gesellschaftlichen Konsens, dass Datenschutz an sich wichtig sei, öffentlich nicht frontal angreifen. Ein solcher Angriff wäre unpopulär und kontraproduktiv, zumal gerade die Phrase darauf abzielt, Zustimmung einzuholen und Widerspruch zu verhindern. Folglich kann nur die Variante (2) in Frage kommen.

Die Variante (2) macht aber sofort klar, dass dieses Problem nicht ohne Belege und Konkretisierungen behauptet werden kann. Wer sagt, dass Datenschutz in bestimmten Fällen Täterschutz sei, muss genau angeben, welche konkreten Datenschutzvorschriften in welcher Weise "Tätern" helfen, sich dem polizeilichen Zugriff zu entziehen. Er müsste zudem darlegen, dass diese Möglichkeiten nicht durch stärkeren Personal- und Mitteleinsatz ausgeglichen werden können. Nur dann gelänge es, die Problembehauptung auch als plausibel durchzusetzen. Bedacht werden müsste dabei, dass jegliche Tatsachenbehauptung nun auch von der Öffentlichkeit nachgeprüft werden könnte.

Für die Überwachungsbefürworter ist diese Konkretisierung jedoch unattraktiv. Anstelle der gefühlten Wahrheit träten die Skepsis und die kritische Debatte. Tatsachenbehauptungen könnten bestritten, Argumentationen widerlegt und Alternativtheorien aufgestellt werden. Was davon zutreffender ist, ist in einer öffentlichen Debatte meist schwer nachzuprüfen. Somit böte eine detailliertere Problembeschreibung zu viele Ansatzpunkte für Widerspruch. Die Pluralität des Meinungsstreits würde die Position der Überwacher schwächen. Deshalb unterläuft die Phrase die Pflicht zur Konkretisierung, indem sie als allgemeine und zugleich mehrdeutige Norm auftritt.