Dauerhafte Besetzung der Ukraine? Ein russisches Dilemma

Seite 2: Kritische Risse im Staatsfernsehen

Die Hauptkochstelle ist dabei die Talkshow des ersten Hofpropagandisten Wladimir Solowjow auf dem Staatsender Rossija 1. Seit Wochen lädt er zu sich die wichtigsten regierungstreuen Stimmen von staatlichen Denkfabriken und dem staatstragenden Teil der Kultur ein, um die "Sonderoperation" der russischen Bevölkerung zu vermitteln – meistens mit einer dominanten Botschaft des Moderators, die USA wären an allem Schuld und in der Ukraine würden nur Nazis kämpfen.

Doch seit einiger Zeit tanzen nicht alle Gäste nach Solowjows Pfeife. Der armenischstämmige Regisseur Karen Schachnasarow, Generaldirektor der Filmschmiede Mosfilm, setzt sich mit skeptischen Bemerkungen in Szene, in denen er auch direkte Kritik am großen Präsidenten sanft verpackt vorbringt. Von nervös zur Seite schauenden Gesprächspartnern wird er zumindest durch fehlenden Widerspruch unterstützt.

Am letzten Sonntagabend gab Schachnasarow am Anfang seiner Rede bei Solowjow im üblich loyalen Stil zwar pflichtbewusst zu, dass man "diesen Kampf" nicht verlieren dürfe. Das wäre sonst das Ende Russlands als "souveränes Land". "Aber wie lässt sich dieser Kampf gewinnen?", fragte er. Er verfolge "mit tiefer Trauer" alles, was in der Ukraine gerade passiere. Man könne zwar Gorbatschow und Jelzin für den Zerfall des "großen Landes" (gemeint ist die UdSSR) schuldig machen, aber dieser Zerfall sei für sich nur halb so schlimm. Nein, man habe nun dazu noch diesen "blutigen Kampf" ausgelöst, etwa "zur Freude der eigenen Gegner"?

"Was für ein Glück: Ostslawen töten Ostslawen. Was für eine wundervolle Chance!", meinte Schachnasarow mit bitterer Ironie. Militärische Macht reiche alleine für einen Sieg nicht aus, stellt der 69-Jährige fest. Man brauche zusätzlich eine Ideologie, wie z.B. die Bolschewiken sie gehabt hätten, erstens, um die Existenz des selbstständigen ukrainischen Volkes, anders als es im Russischen Kaiserreich war, anzuerkennen und zweitens, um dem ukrainischen Volk eine soziale Lösung anzubieten.

"Ehrlich gesagt, habe ich Angst, wenn ich in unserem Medienraum höre, wir wären ein Volk. Ich denke nicht, dass dieses Argument für das ukrainische Volk stichhaltig ist. Denn das ukrainische Volk will auf sich allein gestellt sein", so Schachnasarow. "Der Präsident wiederholt, dass wir die Ukraine nicht besetzen werden, aber wir hören trotzdem, dass die Staatlichkeit der Ukraine aufgehoben werden soll. Vielleicht kümmert sich Selenskyj nicht unbedingt um die Staatlichkeit der Ukraine, aber ich vermute, dass viele Ukrainer sich um die eigene Staatlichkeit schon kümmern." So viel Kritik ist, selbst vorsichtig geäußert, in den letzten Wochen ein absolutes Novum im russischen Staatsfernsehen, das sonst streng auf Linientreue gehalten wird.