Dauerhafte Besetzung der Ukraine? Ein russisches Dilemma

Seite 3: Besetzen oder nicht besetzen?

Dass Putin sich mit den unklar formulierten Zielen wie "Entnazifizierung" eigentlich mehr Spielraum in der Ukraine verschaffen möchte, vermutete auch der russische Militärexperte Wassili Kaschin bei Telepolis. Kaschin hatte bereits Mitte Februar vor der Invasion der Ukraine gewarnt. Diese wäre "völllig dumm", vor allem bei einer dauerhaften Besetzung eines größeren Teils des ukrainischen Territoriums, weil diese unglaubliche Ressourcen erfordern würde.

Putin weiß das und hat deswegen eine solche Besetzung außerhalb des Donbass mindestens verbal ausgeschlossen. Doch was soll man tun mit den derzeit besetzten Gebieten? Ein Rückzug würde auch dortige prorussische Ukrainer zurücklassen, die als "Kollaborateure" potentiell Racheakte der zurückkehrenden Regierungsvertreter und ihres Anhangs fürchten müssten. So gab es in der eroberten Region Cherson Bestrebungen der Gründung einer "Volksrepublik" nach Vorbild des Donbass, Politiker stellten sich in den Dienst der russischen Besatzer.

Systemtreue Stimmen in Russland kennen diesen Widerspruch in Putins Ankündigungen und das daraus folgende Dilemma. Sie sehen den Krieg als Schaffung von Tatsachen und Ausgangspunkt für weitere Entscheidungen - und nicht etwa eine Rückkehr in den Vorkriegszustand als Ziel. Sie sind überzeugt: Einen Truppenabzug aus der Ukraine wird es durch Putin in absehbarer Zeit ohne Zielerreichung nicht geben, und sein Sturz ist aktuell höchst unwahrscheinlich.

Selbst zum Präsidenten loyale Veteranen sahen die aktuelle Situation voraus. Etwa Generaloberst a. D. Leonid Iwaschow (79), der in der DDR als sowjetischer Offizier diente und Mitglied der nationalistischen Denkfabrik Isborsk-Klub ist. Er erlaubte sich im Januar, Putin in einem offenen Brief vor einer Katastrophe im Kriegsfall zu warnen und forderte ihn sogar zum Rücktritt auf. Nach Informationen der Autorin dieses Textes isolierte er sich damals jedoch damit hauptsächlich selbst.

So formulierten später notgedrungen andere ihre Kritik milder, ohne gleich Putin selbst in Frage zu stellen, sondern nur sein Bild vom militärischen Gegner oder seine Kriegsführung. So meinte Schachnasarow am 9. März bei Solowjow: "Wir müssen den Ukrainern Tribut zollen, anscheinend haben sie in den letzten 30 Jahren außerhalb des Donbass schon eine einheitliche Nation aufgebaut". Oder: "Wenn wir noch die Idee haben, dass etwa in die West- und die Zentralukraine zu teilen, habe ich das Gefühl, dass es nicht funktionieren kann. Das ist die Realität. Nun, wir sehen keine politische Kraft, die zu einer Art Grundlage für die Schaffung einer Art neuen politischen Regimes werden könnte."